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Erinnerungskultur muss Selbstkritik sein

Das deutsche „Nie wieder“ ist zu einer Legitimierung diskriminierender Politiken verkommen. So war das aber nicht gedacht

Wie es ist, wisst ihr ja: Es ist X-Mas und ihr fahrt nach Hause und sitzt am ersten Weihnachtsfeier­tag mit Onkel Peter und Cousine Annika am Tisch. Irgendwie kommt die Sprache auf die Stadtbilddebatte und alle sind sich einig, dass die ganzen Migranten das eigentliche Problem sind. Es ist doch so, sagt Onkel Peter und streichelt sich über den Seitenscheitel, dass die unsere deutsche Erinnerungskultur einfach nicht lernen wollen. Und Cousine Annika pflichtet ihm kauend bei, dass „Nie wieder“ ja wohl auch bedeuten muss, sich Deutschland nicht wegnehmen zu lassen …

Die Familie galt den An­ar­chis­t*in­nen der Vergangenheit als Keimzelle der Gesellschaft. Und das stimmt auch in diesem Fall. Denn im Kleinen zeigt sich hier, was sich auch auf politischer Ebene verschiebt. Die deutsche Erinnerungskultur hat in den vergangenen Jahren nämlich eine drastische Umdeutung erfahren: von dem Ziel, die Tä­te­r*in­nen­ge­ne­ra­tio­n mit ihren Verbrechen zu konfrontieren, hin zu einem Argument für eine neue deutsche Arroganz. Der AfD-Politiker Alexander Gauland führte bereits in seiner Vogelschiss-Rede 2018 die Übernahme der Verantwortung für die NS-Zeit als Argument dafür an, wieder stolz zu sein auf Deutschland.

Der Ex-Nazi und heutige Vorsitzende der Freien Wähler Bayerns Hubert Aiwanger beklagte kurz nach seinem Skandal 2023 ganz unironisch den vorgeblich nach Deutschland importierten Antisemitismus, und SPD-Bundeskanzler Olaf Scholz leitete im selben Jahr vom „Nie wieder“ der Erinnerungskultur die Forderung nach Abschiebungen im großen Stil ab. Und als die CDU am 9. November 2024 eine Resolution mit dem Titel „Nie wieder ist jetzt“ verabschiedete, bot das auch keine ausreichende moralische Maxime mehr, um keine drei Monate später eine Zusammenarbeit mit einer gesichert rechtsextremistischen Partei zu verhindern.

Die erinnerungskulturelle Rhetorik wird also an unterschiedlichen Enden des bürgerlichen politischen Spektrums mit den Fantasien kultureller Überlegenheit und den Realitäten rechter Asylpolitiken verknüpft. Integrationsdebatte, ick hör dir trapsen. Die Konsequenzen dieser Umwandlung in eine Erinnerungsleitkultur hat eine Studie des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung ­(DeZIM) diesen November gezeigt: Die Überzeugung, dass Antisemitismus vor allem ein importiertes Phänomen ist, korrespondiert mit verstärkten rassistischen und – Überraschung – antisemitischen Einstellungen. Die Erinnerungsleitkultur verkehrt das deutsche „Nie wieder“ also zunehmend in sein Gegenteil: von einem Anlass für Selbstkritik zu einer Legitimierung diskriminierender Einstellungen.

Da ist es kein Zufall, dass bei CDU/CSU und AfD die Kriminalisierung der Antifa zunehmend auf der politischen Tagesordnung steht. Denn gelebter Antifaschismus erinnert einen daran, dass man Erinnerungskultur eben auch ganz anders verstehen könnte. Wer weiß, vielleicht hätte Walter Lübcke diese Aufgabe für die Union übernehmen können, aber er ist ja von einem Rechtsradikalen ermordet worden. Und wenn man die empörten Reaktionen von Bundeskanzler Friedrich Merz bis Bürgermeister Kai Wegner auf die Aktion des Zentrums für Politische Schönheit anschaut, das im Dezember 2025 eine Statue von Walter Lübcke vor die CDU-Zentrale stellte, dann scheint das antifaschistische Herz der CDU aktuell nur noch äußerst schwach zu schlagen.

Foto: Jule Roehr
Max Czollek

Publizist, Lyriker und Politikwissenschaftler. Mit Büchern wie „Desintegriert euch!“ und „Versöhnungstheater“ hat Czollek den Diskurs über die deutsche Erinnerungskultur kritisch geprägt. Deren Analyse findet sich ausführlicher unter anderem in dem Buch „Alles auf Anfang. Auf der Suche nach einer neuen Erinnerungskultur“ von Hadija Haruna-Oelkers und ihm. S. Fischer Verlag, 2025.

Von der großen Politik zurück zur Keimzelle der Gesellschaft. In Variationen wird eine Situation wie mit Onkel Peter und Cousine Annika vermutlich in vielen Familien vorkommen. Dazu habe ich eine Idee: Wenn jemand anfängt, irgend­welche Menschen für etwas verantwortlich zu machen, klatscht in die Hände und schlagt ein kleines Spiel vor. Die Regeln lauten: Je­de*r darf einmal „Nie wieder ist jetzt“ sagen und muss dann etwas Selbstkritisches hinzufügen. Also zum Beispiel: „ ‚Nie wieder ist jetzt‘bedeutet für mich, meine eigene Familiengeschichte aufzuarbeiten.“ Oder: „ ‚Nie wieder ist jetzt‘bedeutet für mich, Leuten zu widersprechen, wenn sie völkische Ideologie verbreiten.“ Macht Spaß und öffnet neue Perspektiven. Vielleicht wird ja dann doch noch ein konstruktives Familienfest daraus. Max Czollek

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