Erinnerungen an Christian Semler: Über die Macht hinaus
Am Donnerstag vor 80 Jahren wurde Christian Semler geboren. Er war ein 68er, Freund von Rudi Dutschke, später Maoist, dann taz-Redakteur.
Der Neugierige
Christian hatte die seltene Gabe, schrankenlos neugierig zu sein. Wurde ein neuer Imbiss in der Rudi-Dutschke-Straße eröffnet, war Christian gleich dort und bestellte das Gericht, das besonders abseitig klang. In der taz kannte er alle Praktikanten, auch ganz frische, weil er jeden Unbekannten sofort in ein Gespräch verwickelte. Angstfrei stürzte er sich in alle Themen, die ihm relevant schienen.
Die Finanz- und Eurokrise fesselte ihn. Er wusste über wirtschaftliche Zusammenhänge wenig, das gab er freimütig zu. Doch anfängliches Nichtwissen war für ihn nie ein Hindernis, sich in ein Thema zu vertiefen. Christian folgte einem unverwechselbaren Ansatz, den man historisch-literarisch-psychologisch nennen könnte. Wirtschaft erklärte sich bei ihm nicht allein durch Zahlen, sondern auch durch Geschichte und nationale Selbstbilder.
Einer seiner eindringlichsten Texte entstand mitten in der Eurokrise. Es ging um Griechenland, damals ein Dauerthema, aber so hatte noch niemand darüber geschrieben. Der Artikel spannte sich vom byzantinischen Reich bis zur Bild-Zeitung, von Hölderlin bis Hitler. Wie schade, dass Christian den Brexit nicht mehr erlebt hat. Wir hätten viel gelernt, über die Briten, auch über die Deutschen.
Christian schrieb am liebsten, besten und schnellsten, wenn er sich geärgert hatte. Dann hackte er mit zwei Fingern auf seine Tastatur ein. Dennoch klangen fast alle Texte am Ende versöhnlich. Denn er hatte einen Humor, gegen den auch seine Wut nicht ankam. Auf seinen subversiven Witz konnte man sich stets verlassen.
Für die taz-Silvesterausgabe 2008 wurde er gefragt, welcher Satz ihm im vergangenen Jahr am besten gefallen habe. Die knappe Antwort: „‚Mehr Kapitalismus wagen‘ (Friedrich Merz angesichts der weltweiten Krise)“. Wie schade, dass Christian nicht mehr miterleben konnte, wie Merz politisch auferstand, um sich noch einmal an Merkel zu rächen. Christian hätte sich und uns so gut amüsiert.
Ulrike Herrmann
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Der Glückliche
Wir saßen in der taz ein paar Jahre an Schreibtischen gegenüber, in einem kleinen Raum im 6. Stock unter dem Dach. Im Winter war es zu kalt, im Sommer zu heiß. Der Vorteil: Wir hatten unsere Ruhe, in einer Tageszeitung ein unschätzbarer Wert. Wir waren mehr als Kollegen, man kann sagen, wir waren befreundet.
Christian war ein 68er-Anführer gewesen, dann zehn Jahre Chef einer maoistischen Gruppe. Wir haben in unserer zugigen Stube über alles geredet, Politik, Kunst, Frauen, Filme, Fußball, Kommunismus. Wenig über ML-Gruppen.
Viele waren 1969, wie mir ein paar 68er-Aktivisten bei einer Recherche erzählten, mehr als verblüfft, dass damals ausgerechnet der kluge, freundliche Semler zu den Maoisten ging.
Man konnte darüber mit Christian sprechen. Aber es war, anders als bei den allermeisten anderen Themen, nicht interessant. Er hat die ML-Zeit nicht öffentlich bereut, sich nicht distanziert, keinen Schlüsseltext dazu verfasst. Er hat nicht viel darüber geredet, aber wenn, jenen Ton öliger Vertrautheit gemieden, mit der 68er manchmal ihre Irrtümer darboten.
Das Erstaunlichste war sein verschwenderischer Umgang mit seinem Wissen. Man erfuhr in Gesprächen nicht nur, was man wissen wollte, sondern auch manches, von dem man noch nicht mal gewusst hatte, dass es existiert. Und egal wer vorbei kam, ob Cohn-Bendit oder ein verpeilter Praktikant – Christian schenkte allen gleichermaßen Aufmerksamkeit, ohne Wichtigkeitsabstufungen.
Er verstreute Freundlichkeit und Wissen auf eine basisdemokratische Weise. Ich glaube, das war, neben präzisen Texten über kommunistische Gewaltgeschichte, seine Schlussfolgerung aus den zehn Jahren Maoismus. Er war unabhängig, wollte keinen Posten in der taz-Hierarchie und leistete sich den Luxus, niemand nach Gesichtspunkten von Macht zu betrachten. (Probieren Sie das mal, gar nicht so einfach.) Ich glaube, er war glücklich in der taz.
Stefan Reinecke
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Der Flaneur
Die Morgenkonferenz lief schon ein bisschen, wenn Christian seinen Aktenkoffer auf den Kaffeetresen stellte. Er strahlte genießerische Gelassenheit aus, Jacke und Mütze ließ er an beziehungsweise auf. Auf Redaktionskonferenzen sind die Ärmel gern wichtig hochgekrempelt, und vor lauter Seitenplänen und Themenplänen übersehen wir Planer manchmal die schönsten Themen für unsere Seiten. Aber dann war Christian da, hörte sich ein wenig rein in die Konferenz und hatte bald eine Idee.
Von Christian Semler konnte man sich etwas abgucken. Eines war, dass die journalistische Idee nicht im Organigramm entsteht, sondern im Gespräch. Je mehr Redaktionen den ganzen Anforderungen gerecht werden müssen von Website und Wochenende, von Tönen, Texten und Bildern, desto wichtiger ist das. Journalisten sollten flanieren können.
Mit Christian konnte man durch die Ereignisse und Phänomene streifen, die Ausstellung zu Calvin, die ICE-Strecke München–Berlin, warum Ypsilanti doch regieren darf, der Zivildienst weg muss und vor was Stoiber Angst hat.
Einmal flanierten wir mittags zu Curry 36 am Mehringdamm, mit der U 6 nur zwei Stationen. Es war auf dem Höhepunkt der BSE-Krise, Fleisch war verrufen, ganz gleich von welchem Tier, uns schmeckte es. Man hätte schon darüber einen Text schreiben können, aber wir sprachen über was Großes: Das taz-Gespräch zwischen den besten Wurstbratern West von Curry 36 und den besten Wurstbratern im Osten, Konopke an der Eberswalder Straße. Irgendwann machen wir das. Idee: Christian Semler.
Georg Löwisch
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Der Versöhner
Morgens, wenn die taz-Redaktion noch gähnend leer war, geschah es häufig, dass Christian Semler den Chef vom Dienst an seinem Schreibtisch besuchte, um ihn bei seiner Arbeit – dem Ordnen von Agenturmeldungen – auf angenehmste Art zu unterbrechen. Im Gegensatz zu diesem war Semler stets hellwach.
Geredet wurde da über so ziemlich jedes politische Thema, von der Krise der Sozialdemokratie bis zu den Verwirrungen der K-Grüppler in den 1970er Jahren. Ein Komplex war stets allgegenwärtig: das Verbrechen der Nazis und seine Folgen.
Semler, 1938 geboren, konnte sich noch unscharf an das Kriegsende erinnern, das er in Bayern erlebte, an ratternde Panzer, lachende GIs und gedrückte deutsche „Volksgenossen“. Die NS-Zeit zog sich durch seine taz-Texte. Mit bitterer Ironie stellte er fest, dass nun, „nachdem alle Beteiligten unter der Erde sind“, die Berliner Ministerien begannen, ihre braune Vergangenheit auszuleuchten – und würdigte doch dieses Bemühen. Mit Messerschärfe machte er auf den inflationären Gebrauch des Begriffs „Appeasement“ bei der angeblich zu langmütigen Politik gegenüber Putin aufmerksam: Es wäre Aufgabe der heutigen Kritiker einer Beschwichtigungspolitik, nachzuweisen, „dass hinter der proklamierten Friedenspolitik der feste Wille steht, einen Krieg zu entfesseln. An einer solchen Beweisführung fehlt es aber.“
Wenn Semler ein Herzensthema hatte, dann war es Versöhnung mit Polen. Er ging den Dingen auf den Grund und kritisierte, dass schon Gustav Stresemann in der Weimarer Zeit gegenüber dem östlichen Nachbarn revanchistisch war, im Gegensatz zu seinen versöhnlichen Schritten gegenüber Frankreich. Wenig Gutes empfand Semler bei dem Versuch der Vertriebenenfunktionäre, sich umstandslos den NS-Opfergruppen anzuschließen, wiewohl er kritisierte, dass die Linke in den Heimatvertriebenen viel zu lange nur Revanchisten, nicht Menschen erblickte.
Schwere Kost am frühen Morgen, bald darauf in feine Texte gegossen. Sie sind lesenswert, noch immer.
Klaus Hillenbrand
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Der Online-Semler
Was gäbe man im Angesicht der gegenwärtigen Malaise unserer human condition für ein Gespräch mit Christian Semler. Nicht wegen allwissender Antworten, sondern weil er fragende Haken schlagen würde. Der Online-Semler – das Archiv der Texte von Christian Semler auf taz.de – kann dieses Gespräch nicht ersetzen. Aber er ist ein freundlicher Begleiter, der hilft, das Reflexionsvermögen zu schärfen.
Christian Semlers Texte sind im Semler-Archiv der taz unter www.taz.de/!5055161 zu finden.
1.908 Texte umfasst das Archiv bis jetzt, ein Reichtum an Schriften, der vom Nachruf auf Rudi Dutschke bis zu Betrachtungen über surrealistische Weltkarten reicht. Knapp 25 Artikel fehlen noch bis zur Vollständigkeit, sie folgen 2019. Es finden sich dort noch bemerkenswerte Fundstücke, „Ein Gespräch zur Zukunft“ zum Beispiel, das Hans Magnus Enzensberger 1967 mit Rudi Dutschke, Bernd Rabehl und Christian Semler führte. Oder „Malewitsch und die Bolschewiki“, eine andere Form der Ausstellungskritik im Auftrag der Deutschen Bank.
Und wer es analog liebt: Seine Text- und Essaysammlung „Kein Kommunismus ist auch keine Lösung“ ist weiterhin erwerbbar. Ein sinnvolles Weihnachtsgeschenk. Wer sich einen Appetizer wünscht, der gebe im onlinesemler „Meine kleine Kapitulation“ ein.
Eva Berger
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