Erinnerung unter Haushaltsvorbehalt: Wo einst der Hochofen stand
Die Geschichtswerkstatt in Lübeck-Herrenwyk zeichnet Facetten eines Stadtteils nach, der einst als das „Ruhrgebiet Lübecks“ galt.
LÜBECK taz | Nach Herrenwyk kommt man nicht einfach so. Man muss hinkommen wollen. Nimmt dazu die Autobahn Richtung Lübeck und fährt dann kurz weiter die Bundesstraße 75, und wenn man denkt, man ist längst vorbeigefahren, kommt ein Wegweiser.
Dabei war Herrenwyk mal der Nabel der Lübecker Welt. Hier standen sechs Hochöfen, eine Kokserei, Zement- und Kraftwerk samt Zulieferbetrieben. Und natürlich die Verladestationen an der Trave. Denn aus dem Eisenerz, das aus Nordeuropa und Russland anlandete, wurde hier Roheisen gefertigt.
Eine Karte zeigt diese Handelswege gleich im Eingangsbereich des Herrenwyker Museums, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, über die Geschichte des Hochofenwerkes zu berichten. Denn das war einst Lübecks größter Arbeitgeber.
Alles begann, als 1905 Lübecker Bürger ihr Geld zusammenlegten und die Errichtung eines Hochofenwerkes beschlossen, das zwei Jahre später in Betrieb ging. Und weil Herrenwyk gerade mal drei Dutzend Einwohner hatte, mussten Arbeitskräfte her: Aus den Kohlerevieren Polens wurden sie angeworben, auch aus dem Saarland und dem Ruhrgebiet.
Die Nazis übernehmen
Am Ende arbeiteten 2.300 Menschen im Werk, und aus der ländlichen wurde eine pulsierende Wirtschaftsregion mit einer auch architektonisch einheitlichen Werkssiedlung, die noch steht. In den Wohnungen wurden Arbeitern mit ihren Familien 55 Quadratmeter zugestanden, den Meistern 90 und leitenden Angestellten 112. Der Direktor hatte eine standesgemäße Direktorenvilla.
Politisch lag Herrenwyk lange in den Händen der Sozialdemokratie. Bis die Nationalsozialisten übernahmen und den jüdischen Generaldirektor Moritz Neumark entließen. Er wurde in Theresienstadt ermordet.
1936 kam mit Rangenberg eine weitere Siedlung aus kleinen Reihenhäusern hinzu. 1937 übernahm Friedrich Flick das Werk. 1942 errichtete man ein umzäuntes Lager für 500 Zwangsarbeiter für den kriegswichtigen Betrieb. Weitere Lager folgten – auch darüber berichtet die Ausstellung ausführlich und kundig.
Sie residiert im einstigen Werkskaufhaus, was ein echter Clou ist: denn so, wie in dem Museum nun die Geschichte des Ortes komprimiert dargestellt wird, war das Werkskaufhaus lange wichtiger Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens in Herrenwyk. Hier konnte man alles kaufen, was man täglich brauchte: Milch und Hühnerfutter, Wurst und Kaninchendraht, Nägel, Knöpfe und Gardinenstoffe.
Nach dem Krieg fuhr das Werk seine Produktion bald wieder an, war zunächst gut im Geschäft, wovon auch die Arbeiterschaft profitierte: Wo früher Hühner pickten, liegt man nun am Samstag auf der Gartenliege. Das einstige Zwangsarbeiterlager dient jetzt als Unterkunft für die anzuwerbenden „Gastarbeiter“, später wohnten hier Sozialhilfeempfänger.
Doch in den 70ern begann die Stahlkrise, der man wenig entgegensetzen konnte: Die Aktionäre hatten Gewinne abgeschöpft, ohne zu investieren. Schließlich war das Werk nicht mehr konkurrenzfähig, zuletzt arbeiteten noch 800 Arbeiter an den Hochöfen – von einst 2.300. 1981 war Schluss. Doch mit dem Ende der klassischen Industrie wurde die Industriekultur entdeckt.
Und so, wie sich in Hamburg 1980 ein Museumsverein gründete, aus dem ab 1982 das Museum der Arbeit hervorging, wurde man auch in Herrenwyk aktiv: Die ehemaligen Arbeiter brachten mit, was ihr Leben ausgemacht hatte; weitere Exponate fanden sich in den stillgelegten Werkshallen und Bürotrakten – von Lochkarten bis zur Stechuhr.
Beides – Gegenstände der Alltagskultur und die Technik des Werkes – bildeten bald den Grundstock der Dauerausstellung. Denn da die Akteure ihr Anschauungsmaterial nicht einfach einlagern wollten, gründen sie einen Museumsverein: Ein „Museum für Kunst- und Kulturgeschichte“. Heute heißt das Museum „Industriemuseum Geschichtswerkstatt Herrenwyk“ und meint beides: ein Technikmuseum zu sein und eine Geschichtswerkstatt, in der auch erklärt wird, wie ein Hochofen funktionierte.
Auf der Streichliste
Das hat man in den vergangenen Jahren recht erfolgreich praktiziert, trotzdem stand das Haus immer wieder auf der Streichliste des Lübecker Senats – zuletzt im Herbst. Die Idee diesmal: Man könne das Museum ganz dem Förderverein übertragen.
Helga Martens, die den 170-köpfigen Förderverein leitet, kann über solche Ideen nur den Kopf schütteln: „Als gemeinnütziger Verein dürfen wir gar keinen Wirtschaftsbetrieb führen – was ein Museum ja immer auch ist.“ Auch handele es sich bei den anderthalb Stellen im Museum ohnehin um städtische Angestellte. Zum Glück sahen das am Ende auch die Lübecker Parteien so und wiesen den Vorschlag des Bürgermeisters zurück.
Doch Martens denkt weiter. Sie findet, dass in das Museum investiert werden müsste: „Die Dauerausstellung müsste überarbeitet und besonders auf ihre mediale Präsenz hin neu gestaltet werden“, sagt sie. Zugleich sieht sie auch thematisch eine neue Weichenstellung und schaut nach draußen zur Trave: Dort, wo man jahrzehntelang die meist hochgiftigen Schadstoffe, die bei der Eisenproduktion anfielen, gelagert hat, liegt heute ein Naturschutzgebiet samt Rad- und Wanderweg.
Martens sagt: „Wie Industrie de-industrialisiert wurde und wie gleichzeitig der Stahl nun mit riesigen Containerschiffen aus China zu uns kommt, mit allen Folgen für die Meere und das Klima: Das in unserem Museum zu zeigen und so ein neues Kapital aufzuschlagen, das ist doch spannend, oder?“
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