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Erica ZingherGrauzoneEin Anschlag, der jeden einzelnen Juden trifft

Foto: Steffi Loos

Bondi Beach. Das klingt fast niedlich. Nach Sommer, Freiheit, Meeresluft. Nach Unbeschwertheit und Füßen im Sand. Ich schaue mir Bilder an: ein Postkartenmotiv in Sydney. Und ich lese, Bondi Beach stehe für Gelassenheit, für Weltoffenheit.

Jetzt ist Bondi Beach ein anderes Wort geworden. Ein Code. Für einen antisemitischen Terroranschlag auf ein Chanukka-Fest, für Morde und Judenhass, ein Massengrab. Die meisten Namen kennen wir mittlerweile: Matilda Britvan, Rabbi Eli Schlanger, Alex Kleytman, Dan Elkayam, Rabbi Yaakov Levitan, Reuven Morrison, Marika Pogany, Tibor Weitzen, Edith Brutman, Boris Gurman, Sofia Gurman, Peter Mea­gher.

Australien, da möchte ich niemals hin, habe ich oft gesagt. Wegen der Tiere, der Spinnen, so groß wie meine Hand, Schlangen, die es sich in Toiletten gemütlich machen. Viel zu gefährlich sei das, habe ich gesagt. Und viel zu weit weg. Dieses Viel-zu-weit-weg hat die Familie der ermordeten zehnjährigen Matilda Britvan an Australien gereizt. So stark, dass sie sich von der Ukraine aufmachten, an den Bondi Beach. Viel-zu-weit-weg, das sollte schließlich Sicherheit garantieren. Wer vermutet Terroristen mit Langfeuerwaffen, Vater und Sohn, auf einem Postkartenmotiv?

Einst verließen Juden das Schtetl, um in Sicherheit zu leben. In der Assimilation wurden sie dennoch gejagt und vernichtet. Kann man seine Herkunft hinter sich lassen? Gibt es für Juden ein sicheres Leben? Die Antwort lautete lange: Wehrhaftigkeit helfe, ein eigener Staat. Seit dem 7. Oktober ist auch diese Gewissheit erschüttert. Das Pogrom, das Massaker – es haftet am Juden, es scheint ihn zu verfolgen, gleichgültig, wo auf der Welt er lebt. Deshalb lässt sich nicht sagen: Das betrifft mich nicht. Ein Anschlag – selbst viel zu weit weg – trifft jeden einzelnen Juden.

Wie oft kann das Versprechen auf Sicherheit also gebrochen werden? In Manchester, Washington, Amsterdam, Halle, in Israel – überall eigentlich. Tippen Sie einfach einen beliebigen Städtenamen in die Suchmaschine und setzen Sie „Anschlag“, „Pogrom“ und „Juden“ dahinter. Nach Sydney ist vor der nächsten Katastrophe. So nüchtern lässt sich die Bedrohungslage für Juden beschreiben. Der Terrorismusexperte Peter Neumann schätzt, dass mindestens 40 Prozent der versuchten und vollendeten Anschläge der letzten zwei Jahre in Europa jüdischen oder israelischen Zielen galten. Sie kommen aus zwei Richtungen: vom sogenannten Islamischen Staat und von Iran sowie seinen Proxys.

Hier ­erscheinen zwei Kolumnen im Wechsel. Nächste Woche „Geraschel“ von Doris Akrap

Doch Terror entsteht nicht im luftleeren Raum. Er braucht einen Nährboden. Parolen wie „Globalize the Intifada“ sind nicht der Auslöser konkreter Taten, aber sie schaffen das Klima, in der Gewalt legitim erscheint; in der Juden nicht mehr als Menschen wahrgenommen werden, sondern als Schuldige, als Bedrohung. Terroristen denken diese Erzählung zu Ende – und handeln.

Ahmed al-Ahmed überwältigte in Sydney einen der Täter. Dafür wird er zu Recht gefeiert. Dass er Muslim ist, wird betont, als müsse damit etwas bewiesen werden. Vermutlich war es für sein Handeln nicht entscheidend. Gleichzeitig heißt es, wie so oft nach solchen Taten, die Gewalt habe nichts mit dem Islam zu tun. Das greift zu kurz. Terrorismus, der sich religiös legitimiert, verschwindet nicht, indem man ihm jede Verbindung zum Islam abspricht. Auch wenn viele Muslime diese Gewalt entschieden ablehnen, bleibt die Frage, warum solche Deutungen immer wieder anschlussfähig sind. Darüber zu sprechen bedeutet keine Kollektivschuld, sondern den Versuch, Ursachen ernst zu nehmen.

Nach Bondi Beach ist nur vor der nächsten Katastrophe

Viel-zu-weit-weg ist eine Illusion. Betroffenheit wird keine Leben retten. Der grundlegendste Schritt sind Debatten – selbstkritisch, ehrlich. Aber diesen Schritt muss man gehen.

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