Erfolgreiche Migrantenkinder: Die unbekannten Nicht-Prügler
Vom Flüchtling zum Ingenieur, vom Gastarbeiterkind zur Juristin: Zuwandererkinder können Aufstiege schaffen. Mithilfe von Talent, ihren Eltern und Lehrern.
Sie pöbeln und prügeln, brechen die Schule ab, landen in der Arbeitslosigkeit oder gar im Knast. Das ist das Bild, das Medien von jungen Migranten malen.
Doch während die Republik rätselt, warum junge Einwanderer nur als Bildungsversager und Integrationsverlierer gesehen werden, fragen nur wenige: Gibt es erfolgreiche Migranten? Und wie schaffen sie es nach oben - trotz der hohen Hürden, die ihnen das deutsche Bildungssystem in den Weg stellt?
Der Berliner Soziologe Ulrich Raiser ist einer von denen, die das Phänomen unter die Lupe genommen haben. Raiser hat sich die Lebensläufe von 24 Kindern türkischer und griechischer Einwanderer angeschaut. Sein Fazit: Es sind vor allen Dingen die Eltern, auf die es ankommt. Sie stecken all ihre Energie in den Erfolg ihrer Kinder, die ihren eigenen Traum vom sozialen Aufstieg fernab der Heimat an ihrer Stelle verwirklichen sollen. "Ihr seid hier, um etwas zu werden", das ist die Botschaft, die sie ihren Kindern einimpften. Dieser Ehrgeiz sei "wie ein Motor, um die Hürden im deutschen Bildungssystem zu überwinden".
Gülperi Atalay, 26, ist eine von ihnen. Sie ist in Berlin geboren, ihre Eltern kamen Ende der 60er-Jahre aus der südtürkischen Stadt Mersin nach Deutschland. Der Vater schraubte bei BMW Motorräder zusammen. Heute ist er pensioniert, die Mutter arbeitet als Gebäudereinigerin. "In manchen türkischen Familien herrscht die Einstellung, dass Mädchen keine gute Ausbildung brauchen", sagt Atalay. "Das gabs bei mir zum Glück nicht." Für ihre Eltern war klar: Die Tochter soll Abi machen - und studieren. "Du musst das Beste aus deinem Leben machen. Und das geht nur durch Bildung."
Bei Atalay hat es funktioniert. Mit 23 hat sie ihr Jurastudium abgeschlossen, im Mai beendet sie nun ihr Referendariat, danach würde sie gerne als Rechtsanwältin in einer Steuerberatungskanzlei arbeiten. Sie selbst bezeichnet ihren Weg als "unspektakulär". Abitur und Studium seien "recht glatt gelaufen" - so wie bei vielen anderen deutschen Studenten auch. "Doch Normalos wie ich kommen in den Medien nicht vor", sagt sie.
Schaut man auf die Statistiken, ist Gülperi Atalay alles andere als der Normalfall. Dass Einwandererkinder den Weg nach ganz oben schaffen, bleibt die Ausnahme. Sie müssen deutlich mehr leisten als ihre Mitschüler, um überhaupt aufs Gymnasium zu kommen. Mit jeder Stufe des Bildungssystems nimmt ihre Bildungsbeteiligung ab - so steht es im jüngsten Ausländerbericht der Regierung. Nur acht Prozent der Studierenden haben einen Migrationshintergrund - in der Gesamtbevölkerung sind es fast 20 Prozent. Die Zahl der ausländischen Studierenden, die ihr Abitur in Deutschland abgelegt haben, ist in den vergangenen acht Jahren kontinuierlich zurückgegangen. Ja, es gibt sogar einen eigenen Namen für diese seltene Spezies: Bildungsinländer.
Auch Adel Hassan Pour, 23, läuft diesem Trend entgegen. "Zu 99,9 Prozent sind meine Eltern für meinen Erfolg verantwortlich", sagt er. Mit Erfolg meint Pour, dass er an der Rheinischen-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen Wirtschaftsingenieurwesen studieren kann - einer der wenigen deutschen Eliteunis. Die Stiftung der Deutschen Wirtschaft fördert Pour, kürzlich reiste er für einen Unternehmer-Kongress an die Stanford University. Zusammen mit Kommilitonen hat er ein Start-up-Unternehmen gegründet.
Dieser Aufstieg war kaum abzusehen. Erst 1989 kam Hassan Pour mit seiner Mutter und seiner Schwester aus der iranischen Stadt Kermanshah nach Deutschland. Sein Vater lebte damals schon drei Jahre hier. Wie tausende liberale Mittelständler, Akademiker und Intellektuelle war er vor der islamischen Revolution geflüchtet. Die Familie wohnte zunächst in Bonn-Tannenbusch, einem sozialen Brennpunkt. Pours Mutter legte von Anfang an Wert darauf, dass ihre Kinder Deutsch lernen und eine gute Bildung bekommen. Hassan Pour erinnert sich, dass sie ihn damals in Bibliotheken schleppte und ihn mit "Bibi Blocksberg", "TKKG" und den Kinderkrimis "Die drei Fragezeichen" fütterte. "Ich bin mit Newroz und Benjamin Blümchen aufgewachsen", sagt Hassan Pour. Mit kurdischem Neujahrsfest und deutscher Jugendliteratur.
Es muss dennoch eine entbehrungsreiche Kindheit gewesen sein. Hassan Pour erinnert sich daran, dass er nur ein einziges Kuscheltier besaß: einen braunen Hund, den er heute noch hat. "Der ist überall geflickt", sagt er. Entscheidend sei gewesen, dass die Eltern nach drei Jahren den Sprung aus Tannenbusch geschafft haben und nach Meindorf, einen Ortsteil von Sankt Augustin, zogen. Dafür mussten die Eltern einiges in Kauf nehmen. "Anstatt auszugehen, haben sie ihr Geld aufgespart, um mir und meiner kleinen Schwester die Klassenfahrt bezahlen zu können", erinnert sich Pour.
In Meindorf ging Hassan Pour von der dritten Klasse an auf eine katholische Grundschule. "Das war ein Kulturschock", sagt er. "Wir waren im ganzen Dorf die einzige ausländische Familie." Im Nachhinein sieht Hassan Pour, der mittlerweile eingebürgert ist, das allerdings als Vorteil: "Das hat mich der deutschen Kultur näher gebracht."
Die bewusste Entscheidung, in Gegenden zu ziehen, in denen nicht nur Einwanderer wohnen, gibt es bei nicht wenigen Vätern und Müttern von Bildungsaufsteigern. So zogen auch die Eltern der angehenden Anwältin Atalay in eine bürgerliche Ecke in Berlin-Schöneberg und nicht in die Problemkieze Neuköllns oder Kreuzbergs. "Die Wahl des Wohnumfelds wird mit Blick auf eine Erweiterung der Entwicklungsmöglichkeiten der Kinder getroffen", schreibt Raiser in seinem Buch "Erfolgreiche Migranten im deutschen Bildungssystem - es gibt sie doch". Eine Abgrenzung, die häufig nicht unproblematisch ist: Häufig kritisierten Verwandte und Freunde der eigenen Community einen solchen Schritt. "Es wird schlecht geredet", berichtet einer der Interviewten.
Der Aufstieg kann aber auch ohne Abgrenzung vom eigenen ethnischen Kollektiv gelingen. Einer der von Raiser untersuchten Bildungsaufsteiger hat lange in einer Zweizimmerwohnung in Berlin-Neukölln gewohnt - zu sechst mit seiner Familie. "Eine ethnisch heterogene Wohngegend ist keine zwingende Voraussetzung für Erfolg oder Misserfolg", sagt Raiser.
Ein anderes Phänomen ist noch erstaunlicher. Die schlechte wirtschaftliche Lage der Eltern ist kein Hindernis für Aufstieg. Bei Studierenden an deutschen Hochschulen stammen nur noch 13 Prozent aus niedrigen sozialen Schichten. Bei den Studierenden mit Migrationshintergrund dagegen sind es 40 Prozent, deren Eltern nur über ein geringes Einkommen verfügen.
Wie schaffen es diese Kinder trotzdem nach oben? Neben den Eltern sind es nach Ansicht von Forschern insbesondere die Brüder und Schwestern, die eine große Rolle beim Bildungsaufstieg spielen. "Sie kennen im Gegensatz zu den Vätern und Müttern das deutsche Bildungssystem", sagt Raiser. Mit allen seinen Tücken. Den anonymen Strukturen der Universitäten etwa, an denen von Professoren oft keine Unterstützung zu erwarten ist. Oder die Bedeutung von Beziehungen, ohne die das Vorankommen schwierig ist. "Oft sind die jüngsten Geschwister die erfolgreichsten", sagt Raiser. "Sie können auch von den gescheiterten Aufstiegsversuchen der Älteren lernen."
Schwerer hatte es da Umeswaran Arunagirinathan, 29, der sich in Deutschland ohne Eltern und Geschwister durchboxen musste - und es dennoch vom Tellerwäscher zum Mediziner schaffte. Der Tamile floh als Zwölfjähriger allein vor dem Bürgerkrieg in Sri Lanka. Er landete über Singapur, Togo, Nigeria und Spanien in Hamburg. Dort kam er im sozialen Brennpunkt Mümmelmannsberg bei seinem Onkel unter. Von der siebten bis zur achten Klasse besuchte Arunagirinathan noch eine Vorbereitungsklasse, um Deutsch zu lernen. Ab der neunten kam er in die Regelklasse, in der zehnten war er Klassenbester, in der Oberstufe Landesschülersprecher. "Ich habe meine Motivation aus dem Krieg mitgenommen", sagt er. "Ich wollte powern, weiterkommen, die Chance nutzen, die ich in Sri Lanka nicht hatte."
Arunagirinathans Traumberuf war schon immer Arzt. Doch zunächst schien sein Medizinstudium zu scheitern. Die Behörden wollten ihn nach dem Abitur abschieben, Arunagirinathan reiste vorübergehend nach Kopenhagen aus. Dass er am Ende doch noch in Lübeck studieren konnte, verdankt er jemandem, der für ihn eine Bürgschaft unterschrieb - seinem Lehrer. Nur so konnte er eine befristete Aufenthaltsgenehmigung bekommen. Um das Studium zu finanzieren, musste Arunagirinathan Teller waschen gehen, später schob er Nachtwachen im Krankenhaus. In diesen Nächten ist auch sein Buch "Allein auf der Flucht" entstanden, in dem er seine Geschichte aufgeschrieben hat. Gewidmet ist es dem Mann, dem er so viel verdankt: Lorenz Köhler, seinem Lehrer aus Hamburg-Mümmelmannsberg.
Auch das ist eine Erfahrung, die viele erfolgreiche Migranten machen: Sie treffen auf LehrerInnen, die sie fördern, weil sie ihr Potenzial erkennen. "Es ist der persönliche Kontakt zu bestimmten Lehrern, beziehungsweise deren persönliches Engagement", schreibt Soziologe Raiser, "der zu guten Leistungen motiviert und ein Fortkommen begünstigt." Einzelne Lehrer seien es, die den "institutionellen Diskriminierungsmechanismus" der Schule entschärfen können.
Arunagirinathan wird nun in wenigen Monaten sein Medizinstudium abschließen. Danach, so fürchtet er, muss er das Land verlassen. Seine Aufenthaltserlaubnis läuft aus, und für Nicht-EU-Ausländer ist die Approbation als Arzt in Deutschland nur in Ausnahmefällen möglich. "Das ist doch verrückt, oder?", sagt er. "Deutschland vergeudet so viel Potenzial."
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