Erdoğans Einsatz für Kopftuchträgerinnen: Mit väterlichen Grüßen
Erdoğan setzt sich plötzlich für die Rechte von Frauen ein. Also für Frauen, die Kopftuch tragen, versteht sich. Aber welches Kopftuch meint er?
N eulich gab der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan der deutschen Zeit ein Interview. Darin äußerte er Interessantes über Frauen, Kopftücher und Freiheit:
„Nun, wo ist die Glaubensfreiheit? Was gibt es Natürlicheres als eine Frau, die aufgrund ihres Glaubens ihren Kopf verhüllt? So sehr wie Sie sich für die Freiheit von Deniz Yücel einsetzen, so wenig setzen Sie sich für die Freiheit dieser Frauen ein. Sie gehen schlafen, Sie wachen auf und sagen: Deniz.“
Mal ganz abgesehen davon, dass der Vergleich der Bewegungs-, Meinungs- und Pressefreiheit Deniz Yücels mit der allgemeinen Kopftuchtragefreiheit von muslimischen Frauen eindeutig hinkt, sollten für den türkischen Präsidenten auch noch weitere Dinge klargestellt werden.
Dass die Glaubensfreiheit von jeglichen Religionsgemeinschaften im deutschen Grundgesetz verankert ist, zum Beispiel. Dass einige kopftuchtragende Musliminnen mittlerweile sichtbar sind und sehr wohl für sich selbst sprechen können. Und dass kopftuchtragende Musliminnen das Kopftuch in ihrem Beruf als Lehrerinnen aufbehalten können, was ihr gutes Recht ist. Es gibt mittlerweile sozialdemokratische, linksalternative oder feministische Strömungen, die das Selbstbestimmungsrecht von Kopftuchträgerinnen verteidigen.
„Emanzipierte Kopftuchträgerin“ bleibt eine leere Hülle
Die Bedeutung des Kopftuchs hängt vor allem davon ab, wie die jeweilige Trägerin den Islam definiert und auslebt. Auch davon, mit welchen muslimischen Organisationen, Verbänden und islamischen Communitys sie sich identifiziert oder nicht. Fühlen sich Kopftuchträgerinnen mit türkischem Background etwa zu türkisch-muslimischen Verbänden wie Ditib, Milli Görüş oder der Fethullah-Gülen-Bewegung zugehörig? Wenn ja, wie sind sie in diesen eindeutig politisch-islamisch, teilweise islamistisch und patriarchalisch strukturierten Verbänden aktiv? Diese Einstellungen bestimmen die jeweilige Bedeutungsvariante des Kopftuchs mit.
hat in ihrer Dissertationsstudie „Die Bedeutung des muslimischen Kopftuchs“ die Bedeutungs- und Zeichenwelt des Kopftuchs untersucht (2014 im LIT-Verlag).
Derzeit beschäftigt sie sich mit Themen wie Religiosität in Sprache und Zeichen, islamischem Feminismus, antimuslimischen Rassismen und Genderstudien an der Universität Hamburg.
Das Kopftuch kann auch eine emanzipatorische oder sogar feministische Bedeutung annehmen – wenn die Trägerin entsprechende Orientierungen hat und auslebt. Aber eben nur dann! Berücksichtigt werden müssen auch politisch-islamische patriarchalische Bedeutungsvarianten des muslimischen Kopftuchs. Diese werden in Deutschland bis dato entweder ignoriert oder einseitig pauschalisiert. Wie etwa von Alice Schwarzer, die das Kopftuch zur „Flagge des Islamismus“ erklärt – was in manchen Medien und rechtspopulistischen Kreisen auf Resonanz stößt. Auch Necla Kelek nähert sich dem Islam- und Kopftuchthema auf dieselbe undifferenzierte Art und Weise. Und auch jüngere Frauen treten in die Fußstapfen solch kolonialer, sogenannter westlicher Feministinnen.
Junge linksfeministische Stimmen in Deutschland haben hingegen das Selbstbestimmungsrecht von Kopftuchträgerinnen endlich zu verteidigen gelernt – leider aber ebenso undifferenziert: Sie lassen dabei ethnisch-biografische Hintergründe einzelner Frauen und ihre Zugehörigkeit zu politisch gefärbten muslimischen Organisationen außer Acht. Die Variante „emanzipierte Kopftuchträgerin“ bleibt damit eine leere Hülle.
Und der türkische Präsident ? Geht es ihm tatsächlich um die „Freiheit“ oder Selbstbestimmung von Kopftuchträgerinnen? Oder geht es ihm vielmehr eher um eine bestimmte Gruppe von Frauen, die das Kopftuch im Rahmen einer bestimmten politisch-islamischen Ideologie trägt? Und damit ein Zeichensymbol schafft für seine Partei und weitere Geistesgenoss*innen? Letzteres scheint wahrscheinlicher.
Wem kommt Erdoğans Fürsprache zugute?
Die Mehrheit der deutsch-türkischen Kopftuchträgerinnen hat ihre Werte und Definitionen des Islams hauptsächlich ihren Eltern und ihrer Sozialisation in türkisch-muslimischen Moscheegemeinden der Milli Görüş zu verdanken. Milli Görüş ist eine AKP- und Erdoğan-nahe Organisation und ihre Anhänger*innen befürworten im Grunde – bis auf wenige machtlose kritische Stimmen – die AKP-Politik und einen politischen Islam. In zugehörigen Moscheegemeinden und gezielt organisierten Veranstaltungsreihen bekommt der Nachwuchs Werte und Pflichten eines bestimmten Islams vermittelt, die mit einem islamistisch-patriarchalischen Geschlechterbild einhergehen. Viele dieser jungen Menschen übernehmen solche Werte immer noch unreflektiert und unkritisch.
Ebenso gibt es eine winzig kleine Gruppe von Frauen unter den Milli Görüs und/oder AKP-Anhängerinnen, die diese Ideologie- und Kleidungsvorschriften bewusst zurückweist. Diese Frauen wollen von keiner ideologisch-islam(ist)ischen Richtung gefärbt sein, sondern einfach nur ihren Glauben als Muslimin ausleben, der „Umma“ (Arabisch für „muslimische Gemeinschaft“) nah sein. Dafür werden sie von vielen verbandstreuen Frauen kritisiert und kontrolliert. Diese Frauen sind jedoch bis dato unsichtbar, und sie schweigen zu den Umständen. Würde der türkische Präsident auch noch die Kopftuchfreiheiten dieser Frauen verteidigen?
„Erdbeerwoche“ oder „Besuch von Tante Rosa“: Menstruation ist noch immer ein Tabu. Warum wir endlich offen über sie reden sollten, erklärt die taz.am wochenende vom 29./30. Juli. Außerdem: Hello darkness, my old friend. Zum 50. Jubiläum erhält Mike Nichols' Filmklassiker „Die Reifeprüfung“ ein neues digitales Gewand. Und: Audi, Daimler und Co. Was hat die Autoindustrie in geheimen Arbeitskreisen besprochen? Eine Reportage aus Wolfsburg und Baden-Württemberg. Am Kiosk, eKiosk oder im praktischen Wochenendabo.
Der Einsatz Erdoğans für die Rechte von Frauen verwundert – tat er doch bislang alles dafür, genau das Gegenteil von Frauenemanzipation zu bewirken. Man denke an sein Geburtengebot von mindestens drei Kindern pro Frau in der Türkei, an die Bildungsreform, die Frauen langfristig wieder an den Herd beförderte und zuletzt an die Frauendemos am 8. März, die von seinen Sicherheitsleuten gewaltvoll gestoppt wurden, auch die Kopftuchträgerinnen unter ihnen. Auch wenn Erdoğan mit dafür gesorgt hat, dass das Kopftuch an öffentlichen Institutionen und Universitäten in der Türkei erlaubt ist – vorher war es durch das laizistische Prinzip verboten – welcher Kopftuchträgerin kommt seine Fürsprache genau zugute?
Und wie steht es eigentlich um die übrigen Musliminnen, die kein Kopftuch tragen? Wenn das Kopftuchtragen etwas derart Natürliches geworden ist, wie er beschreibt, sind die übrigen Frauen dann der Natur zuwider? Die ganzen Laizistinnen, Kemalistinnen, Alevitinnen, Kurdinnen und sonstigen Nicht-Kopftuchträgerinnen? Oder Gülenist*innen, die teilweise Kopftuch tragen und bis zu dem einschlägigen Beef von Recep Tayyip Erdoğan und Fethullah Gülen schwesterlich befreundet mit Milli Görüş und AKP-Anhänger*innen dieselben Moscheevereine besuchten? Was ist mit den Rechten und Freiheiten dieser Frauen? „Von welchem Kopftuch sprechen Sie genau, Herr Präsident?“, möchte frau ihn nachhakend fragen.
„Diese Frauen brauchen Ihre Befreiung nicht!“
Aussagen wie die von Recep Tayyip Erdoğan spielen zudem der rechtspopulistischen Instrumentalisierung des Kopftuchs zu. Sie befeuern Islamhass, weil die Islamhasser sowieso nur die eine politisch-ideologische Variante des Kopftuchs kennen und meinen. Antimuslimischer Rassismus aber betrifft nicht nur Anhänger*innen der AKP, sondern alle Muslim*innen und exmuslimischen Atheist*innen!
Fraglich ist auch, ob Erdoğans Verständnis von Freiheit für Kopftuchträgerinnen als patriarchale Bevormundung betrachtet werden kann. Von der haben sich junge, selbstbewusste Kopftuchträgerinnen in Deutschland in den letzten Jahren zu befreien versucht. Man denke an die Protestaktion „Topless Jihad Day“ von sechs Femen-Aktivistinnen im April 2013 vor der Ahmadiyya-Moschee in Berlin, bei der sie behaupteten, die muslimische Kopftuchträgerin sei „unfrei“, müsse also „befreit“ werden. Einen Tag später antworteten sechs kopftuchtragende Musliminnen mit dem „Muslima Pride Day“. Sie hielten Schilder hoch mit Slogans wie: „Wir brauchen eure Freiheit nicht“ oder „Wir sind schon frei!“
Später entpuppte sich eine der Gegendemonstrantinnen mit einem Posting in sozialen Medien jedoch als Erdoğan- und AKP-Fan. Fragt sich, von welcher Art „Bevormundung“ sich die Kopftuchträgerinnen hier genau distanziert haben? Verdeutlichen solche Gesten nicht doch die eindeutige Duldung von islamisch-patriarchalischer Bevormundung? In den letzten Jahren hat sich eine große Mehrheit von Kopftuchträgerinnen mit türkisch- muslimischem Background gebildet, welche die Politik und Ideologie Erdoğans – und der AKP – befürwortet, nur eben nicht für die nichtmuslimische Mehrheitsgesellschaft sichtbar, sondern stillschweigend in internen Kreisen politisch agierend.
„Verehrter Herr Präsident“, möchte man dem türkischen Präsidenten sagen, „diese Frauen brauchen Ihre Befreiung nicht!“ Kopftuchträgerinnen in Deutschland sind selbstbestimmt genug, um zu entscheiden, ob sie ihr Kopftuch mit politisch-islamischen Bedeutungen der AKP füllen oder nicht! Die Frage ist eher: Wollen sie es?
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Proteste in Georgien
Wir brauchen keine Ratschläge aus dem Westen
Prozess zu Polizeigewalt in Dortmund
Freisprüche für die Polizei im Fall Mouhamed Dramé
Fall Mouhamed Dramé
Psychische Krisen lassen sich nicht mit der Waffe lösen
Ex-Mitglied über Strukturen des BSW
„Man hat zu gehorchen“
Leben ohne Smartphone und Computer
Recht auf analoge Teilhabe