piwik no script img

Erdoğan stellt „Flüchtlingspakt“ infrageDann mach doch!

Von Anfang an war die Vereinbarung zwischen EU und Türkei kritikwürdig. Käme es wie angedroht zu einem Ende, wäre das auch eine Chance.

Am Freitag auf Lesbos: eine Familie nach der Überquerung des ägäischen Meeres Foto: Costas Baltas/reuters

D ie Zusammenhänge sind kompliziert, aber das ist im Syrienkrieg ja schon länger so: Weil türkische Soldaten mutmaßlich durch einen Luftangriff der syrischen Regierungstruppen getötet wurden und die Nato nicht umgehend Gegen­maßnahmen ergriffen hat, müssen sich Griechenland und Bulgarien auf die Ankunft neuer Flüchtlinge einstellen.

Verschiedenen Medienberichten zufolge hat die türkische Regierung als Reaktion auf den Angriff angeordnet, Flüchtlinge nicht mehr davon abzuhalten, sich auf den Weg in Richtung Europa zu machen. Der Schritt könnte ein Bluff sein, die Türkei könnte aber auch Ernst machen. Und vielleicht wäre das gar nicht das Schlechteste.

Seit mindestens fünf Jahren, spätestens seit Bestehen des Flüchtlingsabkommens zwischen der EU und Ankara, benutzt die türkische Regierung die im Land befindlichen Flüchtlinge als Druckmittel. Die Drohung gen Westen: Wenn wir nicht bekommen, was wir wollen, lassen wir die nächste Welle auf euch los.

Ob die türkische Regierung die halbe Opposition in Gefängnisse sperrt, ob sie deutsche Staatsbürger ohne rechtsstaatliche Verfahren festhält, ob sie kurdische Städte im eigenen Land plattmacht oder ob sie in Syrien einmarschiert und auf die dortige tragische Lage noch einen draufsetzt – die Reaktionen aus Bundesregierung, EU und Nato fielen meist mehr oder weniger verhalten aus. Nicht nur, aber sicherlich auch deshalb, weil die Drohung aus Ankara durchgehend präsent war.

Damit könnte es vorbei sein, sollten Erdoğan und seine Regierung jetzt Ernst machen. Ein Druckmittel funk­tio­niert nur, solange Druck drauf ist. Öffnet sich das Ventil, war es das. Wären die EU-Staaten gezwungen, die Fluchtbewegungen selbst oder mit anderen Partnern zu bewältigen, könnten sie sich aus der Abhängigkeit von Ankara lösen. Sie könnten die türkische Regierung freier kritisieren und auch sanktionieren. So ließe sich auch die Frage klären, welchen Sicherheitsinteressen es dienen soll, wenn eine unberechenbare Türkei weiterhin reguläres Mitglied der Nato bleibt. Danke, Erdoğan!

Bleibt nur ein Problem: Dass die EU den Menschen, die sich jetzt auf den Weg machen, geschlossen hilft, ist nicht zu erwarten. Sie könnten bald auf der Balkanroute oder den griechischen Inseln sitzen – und einmal mehr die größte Last tragen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Tobias Schulze
Parlamentskorrespondent
Geboren 1988, arbeitet seit 2013 für die taz. Schreibt als Parlamentskorrespondent unter anderem über die Grünen, deutsche Außenpolitik und militärische Themen. Leitete zuvor das Inlandsressort.
Mehr zum Thema

6 Kommentare

 / 
  • Soweit ich das sehe, hat Erdogan unsere Knete eingesackt und leitet die Leute trotzdem weiter. I want my mony back, in our bag.

  • Ein neues "2015" können wir uns politisch nicht leisten. Dies, obwohl wir das erste gut geschafft haben - ich stehe da ganz auf Merkels Seite.

    Aber diesmal läuft es anders. Ich gehe davon aus, dass eine Flüchtlingskarawane à la 2015 nicht zugelassen wird - auch dann nicht, wenn es zu grausamen Bildern kommt und vielen Todesfällen.

    Daraus schließe ich, dass Tobias Schulze ins Schwarze trifft mit seiner Annahme: Die Flüchtlingsdrohung wird sich rasch als Flüchtlingsbluff erweisen - Erdogan verliert ein Druckmittel.

    Bleibt noch die Frage, WIE die im Moment anlaufende Flüchtlingskarawane gestoppt werden kann: direkt an der Grenze, indem man gewaltsam die Barrieren zu Landes und zu Wasser verteidigt? Eventuell auch durch massive Sanktionen - die Wirtschaft der Türkei ist ohnehin schwer in der Krise, also eine Achillesferse für Erdogan.

  • Super Vorschlag ... wenn man der AfD helfen will.

    • @Martin74:

      Kriechen vor Erdogan hilft der AfD nicht?

  • Die richtige Reaktion. Schade, dass es die Regierungen anders sehen...

  • Wenn es nicht zu Lasten der Flüchtlinge ginge würde ich ja dazu raten, die Grenzen der Türkei nach Westen zu blockieren und Erdogan somit unter Druck zu setzen bis es quietscht, vllcht ginge es dann ja endlich mit Erdogans Herrschaft vorbei, wenn es schon kein freies Syrien gibt, dann vllcht ja endlich eine freie Türkei. Hierzu müsste sich Europa aber endlich mal wieder anstrengen für Freiheit, Demokratie, Menschenrechte (sehr unspezifisch heutzutage mit "unseren Werten" bezeichnet) offen einzustehen, und diese auch öffentlich und deutlich von der Türkei, Syrien und anderen einzufordern. Sendungsbewusstsein entwickeln. Da man dies aber schon lange nicht mehr tut und taktiert, also sie von den einen fordert, aber andererseits an Saudi- Arabien Waffen liefert hat man eben keine Glaubwürdigkeit. Gleichzeitig hat man es verabsäumt die eigenen Armeen so auszustatten, dass man sich selbst verteidigen kann, oder notfalls Bürgerkriege an seinen Grenzen selbst stoppen kann. So ist man der Gnade von Figuren vom Schlage Trumps, Putins und Erdogans ausgeliefert. Das muss sich ändern. Mit den Flüchtlingen sind wir eigentlich noch ganz gut bedient. Es lässt sich noch nicht absehen wo die Weltlage sich in Zukunft noch hinbewegt, wir müssen da handlungsfähig sein.