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Erdoğan in BerlinZwei-Staaten-Lösung im Kanzleramt

Der türkische Präsident kritisiert einseitig Israels Angriffe in Gaza. Doch was Visionen in der Region angeht, sind sich er und Olaf Scholz einig.

Horchen auf die Journalistenfragen: Erdogan und Scholz Foto: Fabrizio Bensch/reuters

Berlin taz | Recep Tayyip Erdoğan möchte anscheinend das Kameralicht im Kanzleramt nicht verlassen. Er ist mit einer Botschaft im Gepäck angereist, die er mangels anderer Bühnen in Deutschland bei seinem diesmaligen Besuch zumindest im Beisein von Olaf Scholz loswerden möchte. „Zum heutigen Tag gibt es den Ort Gaza nicht mehr“, sagt der türkische Präsident am Freitagabend im Kanzleramt und verweist auf die mehr als 10.000 Toten in dem Küstenstreifen.

Die Angriffe der Hamas auf Israel erwähnt er nicht, Scholz an seiner Seite tut es dafür direkt. „Herr Präsident, dass wir zu dem aktuellen Konflikt sehr unterschiedliche Haltungen haben, ist ja kein Geheimnis.“ Damit sind die unterschiedlichen Standpunkte direkt in den ersten Minuten der Begegnung ausgetauscht. Doch so unterschiedlich die Bewertung der aktuellen Lage im Nahen Osten ist, teilen beide Politiker überraschenderweise die Vision einer 2-Staaten-Lösung in der Region.

Es ist der erste Besuch des türkischen Staatspräsidenten in Berlin seit seiner Wiederwahl im Mai. Das Arbeitstreffen ist für Scholz und Erdoğan gleichermaßen ein diplomatischer Drahtseilakt: Für Deutschland und die Türkei gibt es in guten gegenseitigen Beziehungen viel zu gewinnen, wirtschaftlich aber auch gesellschaftlich. Doch der Kitt ist längst dahin. Zuletzt war es nochmal Erdoğan, der sich mit Lobpreisungen für die Hamas als Gesprächspartner in Deutschland in Verruf brachte.

Worte, in denen er die Hamas lobte und Israel als „Terrorstaat“ kritisierte, wiederholte der türkische Präsident in Berlin nicht. Er schlug dagegen deutlich gemäßigtere Töne an. „Wir machen keinen Unterschied zwischen Muslimen, Christen und Juden“, sagte Erdoğan. Er fordere eine sofortige Waffenruhe in der Region. Scholz wiederholte, dass Israel das völkerrechtlich verbriefte Recht habe, sich gegen die andauernden Angriffe aus dem Gaza-Streifen zu wehren, wollte aber auch gegenüber dem türkischen Präsidenten das verbindende nennen: „Gleichzeit sagen wir, jedes Leben ist gleich viel wert. Seit Jahrzehnten gehört Deutschland zu den größten Finanzierern palästinensischer Belange.“

Vieraugengespräche für Erdoğan

Es sind eine ganze Reihe von Themen, die der türkische Präsident und der Bundeskanzler bei einem etwa zweistündigen Arbeitsessen ansprechen wollen. Beide betonten dabei durchaus auch gemeinsame Interessen: So lobt Scholz ausdrücklich die türkische Vermittlerrrolle im Schwarzmeer-Getreideabkommen. Erdoğan sagt, es gebe eine Reihe „wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und militärischer Themen“ zu besprechen und stellt gegenüber dem Kanzler auch die Forderung auf, den EU-Beitritt der Türkei voranzubringen.

Erdoğan kehrt in seiner Rede nach einem Ritt durch die unterschiedlichen Fragen, von dem Nato-Beitritt Schwedens über ein Migrationsabkommen wieder zurück zum Nahost-Konflikt. Er wünsche sich, dass „Israel und Palästina nebeneinander in Frieden leben können“, sagt er. Nur das sei für die Region eine „nachhaltige Lösung“. Zuvor hatte auch Scholz noch einmal die Zwei-Staaten-Lösung als „erklärtes Ziel“ bezeichnet. Die Zwei-Staaten-Lösung für den Nahen Osten scheint auch eine Arbeitsgrundlage für die beiden Staaten Deutschland und Türkei zu sein.

Inwieweit es wirklich gelungen ist, im Kanzleramt über all diese Fragen zu sprechen, kann bezweifelt werden. Dorthin zogen sich Erdoğan und Scholz zu Gesprächen unter vier Augen zurück, nachdem der türkische Präsident mit einer halben Stunde Verspätung vom Besuch bei Präsident Frank-Walter Steinmeier angekommen war, mit dem er auch unter vier Augen gesprochen hatte.

Den ganzen Tag über war das Berliner Regierungsviertel dabei weiträumig abgesperrt. Der Besuch Erdoğans lief unter dem gleichen Sicherheitsprotokoll wie der eines US-amerikanischen Präsidenten oder des israelischen Ministerpräsidenten. Die S-Bahn war gesperrt, Gullideckel versiegelt.

Kein öffentlicher Auftritt für Erdoğan

Die kleine Protestgruppe am Schloss Bellevue erregte dagegen keine Aufmerksamkeit. Auch im Kanzleramt war eine andere Demonstration gegen den Besuch nicht wahrzunehmen. Es scheint, als wäre die deutsche Zivilgesellschaft anderweitig beschäftigt – zu anderen Zeitpunkten war sie bekanntlich nicht zu bremsen in Erdoğan-Fanatismus auf der einen und Ablehnung gegen den türkischen Präsidenten auf der anderen Seite.

Dabei ist auch das Verhalten der türkischen Seite durchaus bemerkenswert. Zu anderen Zeiten spielte Erdoğan nur zu gern mit den Befindlichkeiten der Türkeistämmigen in Deutschland, kostete die Debatten hierzulande für seine nationale Politik aus. Diesmal hat er die Absage, die seinem Besuch des Länderspiels Türkei gegen Deutschland am Samstag im Berliner Olympiastadion erteilt worden sein muss, hingenommen. Auch eine Weiterreise Erdoğans nach Köln, die zeitweilig kolportiert wurde, findet nicht statt.

Der türkische Präsident reist nach dem Menü im Kanzleramt brav wieder nach Ankara zurück. Entweder hat dies nur mit strikten Vorgaben zum Arbeitsbesuch aus Berlin zu tun, oder die türkische Regierung war selbst an einem geräuschlosen Ablauf des Besuchs interessiert. Dass Erdoğan nicht öffentlich über dieses Rein und Raus in Berlin gemurrt hat, lässt Zweiteres zumindest vermuten.

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2 Kommentare

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  • Die Befürchtungen haben sich also nicht bewahrheitet, gut so!



    Die Tatsache, dass durch die Deklarierung als Arbeitstreffen der türkische Präsident nicht mit militärischen Ehren empfangen wurde, setzte ein Zeichen.



    Gut, dass Scholz nach Erdogans Exkurs in die



    Nahost-Politik die deutsche Position klarstellte, aber auch die diplomatische Höflichkeit nicht vermissen ließ.



    Erdogans Einsatz für das Getreideabkommen war zweifellos erfolgreich. Man/ frau erinnert sich, dass sich unsere Außenministerin selbstständig als Vermittlerin im Ukrainekrieg aus dem Spiel nahm.



    Der Ukrainekrieg ist nicht beendet, umso wichtiger werden Personen, die schon in der Vergangenheit erfolgreich vermittelt haben.



    Es ist weltpolitisch unmöglich China zu ignorieren, Gleiches gilt für die Türkei und Nahost.



    Nicht Alle Gesprächspartner sind " lupenreine Demokraten", doch das gemeinsame Ziel einer Zwei Staaten Lösung ist zu verfolgen.

  • Gesprächsbedarf

    Bemerkenswert, was beim heutigen Berlin-Besuch des türkischen Präsidenten Erdoğan alles nicht auf der Tagesordnung steht: die jahrelange Okkupation großer Teile Nordsyriens, die ethnische Vertreibung hunderttausender Kurden und die systematische Zerstörung ziviler Infrastruktur in den kurdisch-syrischen Gebieten durch die türkische Armee, insbesondere der Energie- und Wasserversorgung. Die okkupierten Gebiete stehen de facto unter türkische Verwaltung und sind einer systematischen „Türkisierung“ unterworfen. Unter den diplomatischen Teppich wird auch der türkische Drohnenkrieg gegen die kurdischsprachigen Syrer gekehrt, dem immer mehr Zivilisten zum Opfer fallen.

    Die völkerrechtswidrige Besetzung syrischen Territoriums durch das NATO-Land Türkei und die damit einhergehende brutale Gewalt gegen die kurdischsprachige Minderheit dauert nun schon mehr als sieben Jahre. Sie begann mit der „Operation Euphrates Shield“ (August 2016 bis März 2017) in weiten Gebieten westlich des Euphrats von Jarabulus über Al Bab bis nach Azaz, deren strategisches Ziel darin bestand, die Kurden aus der Region abzudrängen und jede territoriale Verbindung zwischen den großen kurdischsprachigen Gebieten im Nordwesten (Afrîn) sowie im Nordosten Syriens (Hasakah) abzutrennen. Die türkischer Lira ist de facto alleiniges Zahlungsmittel und die türkische Sprache in den Schulen obligatorisch.

    Ein weiterer Schritt Ankaras war die Operation „Olive Branch“ (Januar bis März 2018) mit der Besetzung das Gebietes Afrîn im Nordwesten Syriens, um die dort in den Jahren zuvor erfolgreich errichteten kurdischen Verwaltungsstrukturen und kurdische Organisationen insgesamt zu zerschlagen.

    Man sieht, es bestünde ’ne Menge Gesprächsbedarf.