Erdbeben in Syrien und der Türkei: Deutsche Retter ziehen sich zurück
THW und Isar reisen aus der Türkei ab. Es sei kaum noch mit Lebenden unter den Trümmern zu rechnen. Die Opferzahl übersteigt 35.000.
Eine Woche nach dem verheerenden Erdbeben im türkisch-syrischen Grenzgebiet gebe es kaum noch lebend zu rettende Menschen in den Trümmern, sagte Steven Bayer, Leiter des deutschen Isar-Teams. Beide Organisationen ließen Material und Zelte für türkische Helfer*innen vor Ort zurück.
Isar war seit vergangenem Dienstag im Erdbebengebiet, das THW seit Mittwoch. Beide Organisationen konnten gemeinsam fünf Menschen lebend aus den Trümmern retten – teilweise nachdem sie mehr als 100 Stunden verschüttet waren. „Es war ein guter Einsatz, der von uns in der Gesamtbetrachtung als Erfolg gewertet wird“, sagte Jörg Eger, Einsatzleiter des THW in Kırıkhan.
Die Rettungskräfte hatten ihre Suche nach Überlebenden am Samstag kurzzeitig wegen Sicherheitsbedenken unterbrochen, nachdem Meldungen von Plünderungen in der Provinz Hatay bekannt wurden. Am Samstagabend konnte das THW dann in Zusammenarbeit mit der türkischen Isar-Organisation und lokalen Helfer*innen einen Menschen lebend aus den Trümmern befreien.
Tausende werden noch vermisst
Die Zahl der bestätigten Toten in der Türkei und Syrien liegt inzwischen bei mehr als 35.000. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation WHO beträgt die Opferzahl in Syrien mindestens 5.900. In der Türkei starben mindestens 30.000 Menschen. Der UN-Nothilfekoordinator Martin Griffiths rechnete am Sonntag sogar mit bis zu 50.000 Toten. Tausende werden noch vermisst.
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sagte dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan am Sonntag in einem Telefonat die Lieferung von weiteren Zelten, Decken und Heizvorrichtungen zu. Über das sogenannte EU-Katastrophenschutzverfahren wurden der Türkei nach Angaben vom Sonntag schon jetzt 38 Rettungsteams mit 1.651 Helfern und 106 Suchhunden angeboten.
Zudem hätten zwölf EU-Staaten bereits 50.000 winterfeste Familienzelte, 100.000 Decken und 50.000 Heizgeräte zur Verfügung gestellt. Hinzu kämen 500 Notunterkünfte, 8.000 Betten und 2.000 Zelte, die die Kommission mobilisiert habe.
Kritik am Bau
Der Vorsitzende der Kurdischen Gemeinde in Deutschland, Ali Ertan Toprak, warnte indes vor eskalierender Gewalt. „Es macht mir zunehmend Sorgen, dass die Menschen aufeinander losgehen“, sagte er dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. „Viele Ortschaften haben bis heute keine Hilfe erhalten. Deshalb ist die Wut so groß.“
Die Menschen fragen sich auch, weshalb so viele Gebäude einstürzen konnten. Erste Haftbefehle wurden erlassen. Die Beschuldigten sollen für Baumängel verantwortlich sein, die den Einsturz der Gebäude begünstigt hätten, meldete die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu unter Berufung auf Strafverfolger. Experten kritisieren, dass Bauvorschriften für mehr Schutz vor Beben nicht umgesetzt werden.
„Die Türkei hat auf dem Papier eine der besten Baunormen der Welt. Wenn es um die Umsetzung geht, sind wir die Schlechtesten“, sagte Städtebauexperte Orhan Sarialtun von der Ingenieur- und Architektenkammer. Die meisten beschädigten Gebäude in den betroffenen Provinzen wiesen dieselben Mängel auf: an Stahl- und Eisenstangen. Beton minderer Qualität sei verwendet worden und bei Bodenuntersuchungen habe es Fehlberechnungen gegeben, sagte Sarialtun. Die Opposition macht die Regierung für den Pfusch am Bau verantwortlich. In der Türkei ist Wahlkampf.
Der türkische Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu warf Präsident Erdoğan, der seit 20 Jahren an der Macht ist, am Sonntag einmal mehr vor, das Land nicht auf solch ein Beben vorbereitet zu haben. Er kritisierte zudem, dass die Regierung 2018 eine Bau-Amnestie erlassen habe, mit der illegal errichtete Gebäude gegen Strafzahlung im Nachhinein legalisiert worden seien. „Sie haben die Häuser, in denen die Menschen leben, zum Friedhof gemacht und dafür noch Geld genommen“, sagte der Oppositionsführer.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Spiegel-Kolumnist über Zukunft
„Langfristig ist doch alles super“
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Krieg in der Ukraine
„Weihnachtsgrüße“ aus Moskau