■ Er war ein Außenseiter. Dann lief er los. Heute ist er Außenminister. Und glücklich. Joschka ist ein überzeugendes Vorbild für ewig nörgelnde Linksalternative: Lasst uns alle umdenken. Lasst uns alle radikal glückliche Mitläufer werden! Von Bernd Müllender: Joschka, wir folgen dir!
Weitermachen wie bisher oder eine radikale Umkehr?“ Das war, wie uns Joschka Fischer in seinem neuen Buch „Mein langer Lauf zu mir selbst“ (Kiepenheuer und Witsch 1999, 175 Seiten, 29,90 Mark) mitteilt, im Herbst 1996 sein Kerngedanke. Der Straßenkämpfer von einst war in der Krise: Auf seinem langen Marsch als politischer Außenseiter war er zu einem „wandelnden Fass von Mensch“ mit kränklich „rasselndem Atem“ geworden und fühlte sich, wie er zugibt, dem Infarkt nahe, hatte Angst vor dem nahen Ende, und erschüttert fragte er sich: „Was ist aus dir nur geworden, Fischer?“
Die Parallelen sind augenscheinlich: Sind nicht auch wir, die taz, schreibende Straßenkämpfer von einst? Immer Außenseiter gewesen, haben dabei oft neben uns selbst gestanden? Die auch wir rasselnden Atems kränkeln und ständig in der Angst vor dem Ende leben? Was tun? Joschka Fischer jedenfalls begann damals zu laufen und nahm ab. Vom Tagespensum gut 100 Meter bis zum Marathon, von 112 Kilo auf 75. Als er angekommen war in seinem Glück, wurde er Außenminister. Heute weiß er: „Die dramatischen Veränderungen meines Körpers standen in einem deutlichen Zusammenhang mit meinem Einstieg in die große Politik.“ Ja, auch wir haben die Zusammenhänge erkannt: Nur radikale Umkehr hilft!
Fischer schreibt: „Ich hatte mich fast schon aufgegeben.“ Das denken auch wir täglich beim Blick auf die Verkaufszahlen. Aber das wird ab heute anders werden – nach unserer Läuterung zum Mitläuferblatt. Die taz macht Schluss mit dem elenden Leben als ewig nörgelnder Outlaw: Wir laufen jetzt auch – volle Kanne ins Zentrum der Macht. Wir laufen mit. Und erklären uns selbst zum Regierungsblatt, so wie Fischer zum Vorzeigemann der Regierung wurde.
Eine eigene Meinung ist nicht mehr nötig. Statt Opposition Opportunismus. „Das Mittelfeld begann sich immer weiter und weiter auszudehnen“, schreibt Fischer. Ja, überall goldene Mitte – sind einerseits und andererseits nicht eigentlich das Gleiche? Pro und kontra nur feige Vokabeln der Angsthasen, denen zu einem soliden Ja der Mut fehlt? Wir erklären heute den radikalen Bruch mit unserer schwarzseherischen Vergangenheit und sagen aus freiem Willen und mit fester Überzeugung Ja zur Welt, so wie sie ist, Ja zu Politikern aller Couleur. So wie der verfettete Fischer den Auschwitz-Pazifisten Heiner Geißler anhimmelte, diesen „schlanken und ranken Asketen im vorgerückten Alter“. Um selbst, nach seiner Verschlankungswende, „aus einem Mops ein hagerer Asket“ zu werden.
Eine gelungene Selbstgeißlerung. Laufen und Mitlaufen als Idee, als Zustand, als endorphinerfüllter Auftrag. Unser Vorbild schreibt von seiner plötzlich erwachten Liebe zu klassischer Musik („ein Quartett von Mozart, und ich war hin und weg“) – auch wir werden ab sofort alle Zwischentöne, erst recht alle kritischen Untertöne, aus unserem Blatt verbannen und harmonisch im Konzert der Großen mitspielen.
Der Autor dieser Zeilen darf als Pionier des taz-Mitläufertums gelten, seit er Fischer 1998 beim Wahlkampfjoggen im Hecheln interviewt hat. Im Buch erinnert sich Fischer der heißen Begegnung ganz genau: „Aachen, Dreiländer-Eck, heiß, hart, Berg, Tempo sehr hoch, 35 Grad, gnadenlos“.
In Interview (taz vom 13. 8. 98) hatte Fischer gestanden, Laufen habe „was Meditatives. Es ist die Entdeckung des eigenen Ichs.“ Wie tief er sich joggend in sein meditatives Innerstes hinein versenkt, lesen wir auf Seite 159: Eines Tages sei am Rheinufer neben ihm ein Mitläufer aufgetaucht und habe gefragt, ob er „beim Laufen schon seinem Buddha begegnet wäre“. Ach, Joschka, soll ich gestehen, dass ich es war, der dich ansprach? Warum nur hast du nichts von deinem inneren Buddha erzählt?
Fischer sagt: Laufe, und du wirst stark. Laufe, und du wirst klug. Wir haben verstanden: Laufe mit, und alles wird gut. Das heißt für die taz: sich verkaufen, ihre Meinung verkaufen, auch mal Panzer verkaufen lassen und zum glücklichen Mitläufer werden. Und nie wieder wollen wir ihn Joseph nennen.
Unser verehrter Minister schreibt von seinen ersten Läufertagen, als er am Rheinufer endlich bis zur Plittersdorfer Fähre kam. Ja, die Fähre: Sinnbild für das Erreichen neuer Ufer, neuer Wege. Uns kann kein Fluss zu reißend sein. Und so dürfen wir uns heute, dankbar und demütig, gemeinsam mit Joschka das Plittersdorfer Programm geben, als strahlendes Manifest für eine glückliche und selbstzufriedene Zukunft (siehe unser Manifest auf dieser Seite).
Fischer warf Gewicht ab, Ballast – auch inhaltlich mehr als lächerliche 37 Kilo. Die taz war nie fett, heute ist sie ein dürrer Hering. Und doch wollen auch wir Gewicht abwerfen, ideologischen Ballast. Kritik an der Gesellschaft? Will eh keiner lesen. Die Verhältnisse geißeln? Wir wollen höchstens noch wissen, wer mit wem eines hat. Konformistisch wollen wir sein, lobbyistisch, immer auf der Seite des Stärkeren. Nicht nur in der Politik: Der Sportteil wird ab sofort Bayern München preisen, unser Feuilleton sich nur noch der Hochkultur widmen, und ein geläuterter Wiglaf Droste wird freundliche Bibelexegese betreiben. Das wird das runner's high der glücklichen Mitläufer, von dem wir niemals wieder runter wollen. Denn die Maxime lautet, so Fischer: „Belüge dich niemals selbst! Gib niemals auf!“
Wer seiner selbst sicher ist, gewinnt Erkenntnisse über sich und die Welt, verwandelt diese Erkenntnisse in göttliche Ideologien und schließlich in die Tat. Vorbild Fischer hat „nebenbei“, wie er schreibt, beim Laufen auch „das ein oder andere politische Problem gelöst“. Bescheiden, wie er ist, nennt er keine Beispiele, aber wir dürfen es ruhig sagen: zum Beispiel Panzer in die Türkei verkaufen oder den Kosovo-Einsatz. Letztere Idee könnte ihm an jenem Tag gekommen sein, als er einmal ganz weit lief und überrascht war von seinem Ziel: „Die Insel Nonnenwerth, die bereits zu Rheinland-Pfalz gehört. Die Landesgrenze! Heureka!“ Ja, Landesgrenze! Das sind bewusstseinserweiternde Grenzerfahrungen, die auch wir machen wollen. Von Nonnenwerth nach Novi Sad ist es kaum mehr als ein kleiner innerer Zwischensprint.
Bald haben wir, die taz, immerhin einen Halbmarathon geschafft: 21,1 Jahre. Wir laufen weiter in Joschkas Fußstapfen, federnd, nimmermüde und gucken nie mehr zurück. „Bänglichkeit vor der unbekannten Herausforderung“ kennen wir kaum. Wir sind bereit, die neue Lebensform für uns zu einer „regelrechten Obsession“ zu machen. Es ist ein langer Lauf. Wir werden bei uns ankommen. Und damit beim Erfolg. Heureka!
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