Epidemiologe zu Lehren aus der Pandemie: „Keine starke Dynamik“
Im März 2020 trat der erste Corona-Lockdown in Kraft. Seitdem war der Bremer Epidemiologe Hajo Zeeb bei Journalist:innen in aller Welt gefragt.
wochentaz: Herr Zeeb, in den letzten drei Jahren mussten Sie oft kurze Statements zu dem abgeben, was Journalist:innen beschäftigt hat. „Müssen wir alle sterben?“, „Maske auf oder ab?“ Worüber möchten Sie sprechen?
Hajo Zeeb: Stimmt, als Wissenschaftler wurden wir notfallartig befragt zur Wirksamkeit von Maßnahmen, neuen Studien. Das war in Ordnung, uns hat das ja auch beschäftigt. Aber für mich und meine Kolleg:innen aus dem Public-Health-Bereich waren die Fragen interessant, die über die Verbreitungswege des Virus hinausgehen. Wie reagiert die Gesellschaft auf die Pandemie? Wie das Wissenschaftssystem? Wie kann ein pandemieresilientes Public-Health-System aussehen?
Darum ging es in der öffentlichen Diskussion selten.
In der Nachbereitung müssen wir uns fragen, warum es uns nicht oder nur an wenigen Stellen gelungen ist, diese Perspektive in die Diskussion einzubringen.
Der Mensch
Hajo Zeeb (60) ist Professor für Epidemiologie an der Universität Bremen und leitet die Abteilung Prävention und Evaluation am renommierten Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie (BIPS). Er stammt aus Diepholz, hat in Aachen Medizin und Philosophie studiert und drei Jahre in Namibia als ärztlicher Entwicklungshelfer gearbeitet. Dort hat er als teilweise einziger Arzt des Krankenhauses auch Geburten begleitet und bis zu 200 Patient:innen am Tag behandelt. Anschließend studierte er Epidemiologie in Heidelberg und habilitierte an der Universität Bielefeld. Zeeb hat mit seiner aus Simbabwe stammenden Frau drei Söhne zwischen 24 und 37 Jahren.
Das Fachgebiet
Public Health ist die Wissenschaft und Praxis zur Verhinderung von Krankheit, Verlängerung des Lebens und Förderung von physischer, psychischer und sozialer Gesundheit unter Berücksichtigung einer gerechten Verteilung und einer effizienten Nutzung vorhandener Ressourcen durch die organisierten Anstrengungen einer Gesellschaft. (eib)
Und stattdessen fast nur die Virolog:innen gehört wurden.
Ja. Wir hatten sehr schnell in den ersten Wochen der Pandemie mit über 30 Fachgesellschaften ein Kompetenznetz Public Health zu Covid-19 aufgebaut, weil wir gesagt haben, es macht ja keinen Sinn, dass wir jetzt alle einzeln Stellungnahmen in die Luft setzen, lasst uns lieber zusammenarbeiten und unsere Expertise anbieten. Da haben Ethiker:innen dringesessen, Soziolog:innen, die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, das RKI und so weiter. Die Deutsche Gesellschaft für Virologie war auch dabei, aber nicht aktiv. Wir haben uns jeden Montag in Schalten getroffen, manchmal viel häufiger, und haben Argumentationslinien abgesprochen, Policy Briefs ausgearbeitet, zu Einzelmaßnahmen, aber auch zu größeren Zusammenhängen. Diese Zusammenarbeit war ein großer Vorteil für uns, aber leider hat sich daraus keine starke Dynamik nach außen entwickelt.
Haben Sie ein Beispiel?
Das ging los mit der Diskussion über die Masken, da war ja sehr viel Unsicherheit zu Beginn. Wir hatten die Evidenz zusammengebracht, konnten also zeigen, was es zu dem Zeitpunkt an wissenschaftlich fundierten Erkenntnissen gab.
Was ist daran der spezifische Public-Health-Blick?
Der geht über die Frage der Wirksamkeit hinaus. Welche positiven und negativen Folgen haben die Masken, für wen, in welchen Situationen? Was kostet das: individuell und die Gesellschaft? Welche Auswirkungen auf die Umwelt gibt es?
Stattdessen haben alle durcheinandergeredet, die einen für Masken plädiert, die anderen dagegen, nur um wie der deutsche Weltärztepräsident Frank Montgomery zurückzurudern.
Viele, die mitgeredet haben, haben sich einzelne Studien herausgegriffen, die gut zu ihrer Argumentation passten. Das nennen wir eine anekdotische Evidenz. Eine evidenzbasierte Diskussion hätte von vornherein alle Studien berücksichtigen und auch klar benennen müssen, was wir wissen und was nicht. Man muss aber auch sagen, dass jeden zweiten Tag neue Evidenzen zusammenkamen, da war es auch für uns schwierig, eine Art Schirm zu generieren.
Dass es anfangs so unübersichtlich war, lässt sich noch gut erklären. Aber es ging ja so weiter.
Das zog sich durch, ja. Später ging es unter anderem um die Impfung. Da war es wieder so, dass bestimmte Leute mit Einzelevidenzen gearbeitet haben.
Was wäre Ihre Sicht gewesen?
Eine Impfung ist eine komplexe Intervention und nicht einfach eine Spritze für den Einzelnen. Da ist die Frage, wie man es organisiert, dass viele Menschen geimpft werden, wie man es schafft, dass ernsthaft über Wirkung und Nebenwirkungen diskutiert werden kann, wie man eine klare Kommunikation hinbekommt, dass man auch an die Leute denkt, die nicht primär Zeitung lesen und von den typischen Medien gar nicht erreicht werden.
Das, was Sie gerade aufgelistet haben, hat in Bremen, der Stadt, in der Sie leben und arbeiten, ja sehr gut funktioniert.
Hier gab es wie in ein paar anderen Städten eine gewisse Grundaufmerksamkeit für diese Fragestellungen, schon ab Mitte 2020.
Lag das daran, dass es hier mit Ihrem Arbeitgeber, dem BIPS, ein großes Public-Health-Institut gibt und Sie einen guten Draht hatten zur Gesundheitssenatorin?
Wir hatten einen guten Austausch mit der Senatorin und auch mit dem Krisenstab. Ich habe aber vor allen Dingen eng mit der Schulbehörde zusammengearbeitet, die haben wir grundständig beraten. Alle zwei Wochen haben wir einen Evidenzbericht für die gemacht, um zu sagen, was es an neuen Informationen gibt. Und das haben die auch wirklich genutzt.
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Das ist doch aber ein Unterschied: Ob sich eine Regierung von Virolog:innen beraten lässt oder von Epidemiolog:innen, die auch darauf gucken, welche gesundheitlichen Folgen etwa Schulschließungen haben. Waren deshalb Bremer Schulen und Kindertagesstätten quasi nie geschlossen?!
Diese anderen Aspekte sind hier stärker berücksichtigt worden als an anderen Stellen, ja.
Bremen war eins der letzten Bundesländer, das die Maskenpflicht in Schulen eingeführt hat und eins der ersten, das sie aufgehoben hat. Die Bildungssenatorin hat das auch damit begründet, dass die Kinder sonst schlechter Deutsch sprechen lernen. Oder dass sie dick und depressiv werden, wenn die Schulen geschlossen sind.
Ich glaube, in Bremen sind wir sehr geübt darin, auf Benachteiligungsprobleme zu schauen. Hier gab es ja auch schon sehr früh Daten darüber, dass die Infektionsraten in den benachteiligten Stadtteilen vergleichsweise hoch waren und auch Maßnahmen, um dem zu begegnen. Aber es waren bestimmt auch Einzelpersonen, die entschieden haben, wir fahren das nicht ganz so streng. Es gab sehr früh Evidenz, nach der Schulschließungen ein effektives Mittel sind, um die Weiterverbreitung zu stoppen. Darüber habe ich mit der Bildungssenatorin diskutiert, aber sie hatte ihre eigene Vorstellung und das ist auch gut so.
Das heißt, Sie haben sich schon manchmal gefragt, ob das gutgehen kann?
An manchen Stellen fand ich die Entscheidungen tatsächlich mutig und hätte anders reagiert. Ich habe auch immer dafür argumentiert, nicht so viel Durcheinander zu schaffen, sondern homogener zu arbeiten, um die Leute nicht so zu verwirren. Stattdessen haben die Länder und teilweise die Landkreise sehr unterschiedlich gehandelt.
Im ersten Lockdown 2020 waren die Baumärkte in Niedersachsen geschlossen und in Bremen geöffnet, sodass die Leute in Scharen in die Märkte strömten. Ohne Masken.
Oder als es um die Testpflicht und Homeoffice ging. Wir haben ja große Industriebetriebe hier, wo die Leute hin und her gefahren sind. Überhaupt hätte man in den Betrieben viel mehr machen können, um damit auch Kinder und Risikogruppen zu schützen.
Sie sagten vorhin, Sie seien als Public-Health-Expert:innen nicht so einflussreich gewesen wie die Virolog:innen. Haben Sie eine Erklärung dafür?
Da ist eine virale Erkrankung aufgetaucht, etwas Neues. Jemand wie Christian Drosten und andere hatten dieses Feld gut besetzt mit Tests, Diagnostik und sehr viel Vorerfahrung und da hat die Politik gesagt, „mit denen müssen wir reden“. Daran war erst einmal nichts falsch.
Aber es ist schon sehr bemerkenswert, dass wir eine Pandemie hatten und die Fachleute dafür, die Epidemiolog:innen, wurden kaum dazu gefragt.
Wir haben uns manchmal gewundert, wenn sich Virolog:innen dazu geäußert haben, was in Schulklassen abläuft …
Was sie ja nur getan haben, weil ihnen Journalist:innen diese Fragen gestellt haben, ohne darüber nachzudenken, ob sie die Richtigen sind, um sie zu beantworten.
Das hat vielleicht damit zu tun, dass die Virologie leichter zu verstehen zu sein scheint. Die Viren kann man sogar bildlich darstellen. Das hat einen Wiedererkennungswert, gerade das Coronavirus. Wie wollen Sie Public Health darstellen? Und dann haben wir in Deutschland einfach im weltweiten Vergleich sehr gute Virolog:innen.
Aber Ihr Bereich ist auch sehr gut aufgestellt – man hätte mehrere Perspektiven zulassen können.
Wir haben uns oft mit Großbritannien verglichen, wo es sofort ein Expertengremium der Regierung aus verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen gab – in Deutschland erst super spät, vorher waren das ausgewählte Leute aus wenigen Disziplinen.
Wobei Großbritannien, was die Todeszahlen anging, nicht besser durchgekommen ist.
Nein, da ist auch vieles nicht gut gelaufen, aber der Umgang mit wissenschaftlichen Erkenntnissen war ein anderer als hier.
Der Drosten Schwedens war ein Epidemiologe: Anders Tegnell, bis letztes Jahr Leiter der Behörde für öffentliche Gesundheit. Dort gab es keine Maskenpflicht, keine Lockdowns, keine Schulschließungen, dafür aber auch kein ermüdendes Hin und Her. War dort der Public-Health-Gedanke einflussreicher? Haben die Schweden auf mehr als das Virus geschaut?
Ja, seine Sicht hat die Politik stark beeinflusst. Aber andere Epidemiolog:innen haben es ganz anders als Tegnell gesehen, da war viel Unruhe in der wissenschaftlichen Community. Und Schweden stand, was die Sterberate angeht, anfänglich schlechter da als die skandinavischen Nachbarländer, wobei sich das offenbar über den Gesamtzeitraum ausgeglichen hat, wie neue Daten zur Übersterblichkeit zeigen.
Sie haben ja nicht nur darauf gewartet, dass Journalist:innen Sie anrufen. Im Dezember 2020 haben Sie eine Stellungnahme veröffentlicht, dass Sport für Kinder und Jugendliche ermöglicht werden sollte. Das waren Zeiten, in denen Kinder nur alleine oder zu zweit trainieren durften.
Oh ja, ich erinnere mich. Ich spiele Tennis. Das war erlaubt, weil man ja reichlich Abstand zueinander hat. Aber jeder musste seine eigenen Bälle mitbringen und Handschuhe benutzen, wenn man den Ball vom Mitspieler aufnehmen wollte. Das haben wir genau eine Minute durchgehalten.
Es ging Ihnen auch dabei darum, dass es mehr Gesundheitsgefahren gibt als das Coronavirus.
Ich fand die damalige Diskussion über Kinder als „Virenschleudern“ sehr unangenehm. Die Evidenz sprach dagegen, dass sich Kinder draußen anstecken, wenn sie nicht gerade huckepack aufeinander herumhüpfen. Umgekehrt gab es Belege, dass Sport und Bewegung vor schweren Krankheitsverläufen schützen.
Ein anderes Mal haben Sie angeregt, die benachteiligten Stadtteile bevorzugt mit dem damals noch begrenzt verfügbaren Impfstoff zu versorgen. War das neu für Sie, sich so weit mit politischen Forderungen aus dem Fenster zu lehnen?
Neu war nur die Reichweite. Ansonsten nicht, weil ich immer schon zum Thema Migration und Gesundheit geforscht habe, und da haben wir auch relativ häufig Themen auf die Agenda bringen müssen.
Wann sind Sie das erste Mal von Medien angerufen worden?
Das ging schon im März 2020 los, nachdem die Leibniz-Gemeinschaft einen Podcast mit mir gemacht hatte. Danach ging es Schlag auf Schlag, die Anfragen kamen von überall her, auch sehr viele aus dem Ausland.
Sie sollten am 25. März 2020 bei NBC News erklären, warum so wenig Deutsche sterben. Da haben Sie gesagt, lasst uns mal bitte zwei Monate warten, ob die Sterberate dann immer noch so niedrig ist.
Das war immer mein Ansatz, nicht nur auf heute gucken, das macht keinen Sinn in einer Pandemie. Anfangs waren die Infektionsraten in Ostdeutschland auch so niedrig. Da habe ich gesagt, das habe mit dem sozioökonomischen Status zu tun in dem Sinne, dass gerade die Skifahrer unterwegs waren, und das sei vielleicht nicht so verbreitet im Osten. Da habe ich böse Anrufe bekommen. „Wir im Osten fahren auch Ski, nur nicht in den Alpen.“
Sie mussten sich immer wieder zu abstrusen Theorien äußern.
Ich bin von Journalisten oder auch Medizinern angerufen worden, die sagten, im Osten seien die Leute noch lange gegen Tuberkulose geimpft worden, deshalb würden sie nicht krank. Die schönsten Diskussionen hatte ich mit russischen Sendern. Anfangs haben wir ganz vernünftig gesprochen, aber am Ende kamen immer Querdenkerhypothesen. Ich habe aber auch ernsthafte Diskussionen mit sehr gut informierten Journalist:innen geführt. Schön war es, wenn wir eine halbe oder ganze Stunde Zeit hatten, da konnte man auch mal in die Tiefe gehen.
Aber häufig wollten Journalist:innen nur ganz bestimmte Sätze von Ihnen hören, oder?
Ja, das gab es. Ich erinnere mich an eine Fernsehsendung, in der mir immer wieder dieselbe Frage gestellt wurde, und ich immer wieder gesagt habe, dass sich das nicht so eindeutig beantworten lässt. Ich weiß nicht mehr, was das Thema war, aber ich weiß, dass ich mich sehr unwohl gefühlt habe. Ich glaube, es wäre gut, wenn Medien diese Unsicherheit, die Wissenschaft ausmacht, aushalten.
Gab es Phasen, in denen Sie täglich Interviews geben mussten?
Ja. Immer wenn die Zahlen besonders hoch waren, waren es sechs, acht Interviews am Tag. Und da habe ich noch welche abgelehnt. Die BBC hat oft bei mir angerufen, gerne auch abends um acht, um zu sagen, wir haben gerade eine Sendung, und würden gerne in 20 Minuten mit Ihnen ein Live-Interview machen.
Sind Sie auch so angefeindet worden wie zum Beispiel Christian Drosten?
Nein, so schlimm wie bei einigen anderen, die viel in den Medien präsent waren, war es nicht. Ich habe viele E-Mails bekommen. Die habe ich dann irgendwann schon vorher erwartet. Wenn ich gesagt habe, es könne sein, dass wir noch einmal Einschränkungen brauchen oder Masken tragen sollten, dauerte es keine 30 Sekunden und ich bekam die ersten nach dem Motto: „Du Sau, sag das nicht noch mal, sonst kommen wir vorbei.“ Manchmal habe ich überlegt, mich an die Polizei zu wenden, es gab auch antisemitische Sachen. Und ich habe von jemand einen Entwurf für eine neue Verfassung bekommen, ich solle mich doch für die einsetzen.
Wurden Sie auf der Straße erkannt?
In Bremen habe ich nur gute Erfahrungen gemacht. Da kamen Leute auf mich zu und haben gesagt: „Gut, was Sie da gesagt haben.“
Sie hatten anfangs gesagt, Sie fragen sich, wie ein pandemieresilientes Public-Health-System aussehen kann. Haben wir das jetzt?
Das wage ich zu bezweifeln. Wir sind sicherlich deutlich aufmerksamer. Nach drei Jahren Pandemie wissen wir, dass uns so ein Geschehen in Europa genauso treffen kann. Wir haben früher immer über die asiatischen Länder geschmunzelt, wenn dort Masken im öffentlichen Raum getragen wurden, aber ich glaube, das wird niemand hier mehr überraschen, wenn jemand in einer Grippewelle Maske trägt. Und wir machen umfangreiche Testungen von Abwasser, aber schon diese genomische Sequenzierung, die andere Länder grundsätzlich machen, mussten wir erst aufbauen und jetzt wird sie auch schon wieder zurückgefahren. Es geht an vielen Stellen zurück zum business as usual, auch im Gesundheitssystem, da müssen wir aufpassen.
Und haben wir etwas gelernt, das über den Umgang mit Pandemien hinausweist?
Ich glaube, dass wir gesehen haben, dass Gesundheit alle Sektoren maximal beeinflusst: Kultur, Soziales, Betriebliches, familiäres Leben. Wir argumentieren seit Jahrzehnten, dass Gesundheit in allen Politik- und Lebensbereichen beachtet werden muss, wenn Entscheidungen getroffen werden. Diese Erkenntnis hat sich jetzt hoffentlich durchgesetzt. Aber mal sehen, wie lange das im kollektiven Gedächtnis bleibt.
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