Entscheidung zum Familiennachzug: Nachts liegt die Seele bloß
Seit zwei Jahren und sechs Monaten wartet der Kurde Jawan darauf, seine Frau und vier Kinder von Syrien nach Deutschland zu holen. Ein Erfahrungsbericht.
Wie hält er das aus? Diese Frage stellen wir uns immer wieder. Seit dem Frühjahr 2016 lebt Jawan in unserer Wohngemeinschaft. Seine Frau und seine vier Kinder hat er seit zweieinhalb Jahren nicht mehr gesehen. Die Familie lebt in Afrin. In dem kurdischen Kanton in Nordsyrien ist unlängst das türkische Militär einmarschiert. In Afrin herrscht jetzt Krieg. In Wirklichkeit heißt Jawan anders, seine Sorge ist, dass die Veröffentlichung seines richtigen Namens alles weiter schlimmer macht. „Nenn mich Jawan, das ist ein kurdischer Name“, hat er gesagt.
Am 12. Januar 2018 haben wir Jawan zum ersten Mal weinen sehen. Jawan ist ein Mensch, der niemandem zur Last fallen möchte. Normalerweise zieht er sich in sein Zimmer zurück, wenn es ihm schlecht geht. Am 12. Januar, es war ein Freitag, hatten CDU/CSU und SPD in den Sondierungsverhandlungen für eine Große Koalition festgeklopft, dass der Familiennachzug für Flüchtlinge mit subsidiärem Schutzstatus auf 1.000 Menschen pro Monat begrenzt wird.
Als wir uns nach dieser Nachricht zum ersten Mal in der Küche sehen, steht Jawan am Fenster und schält eine Orange. Draußen ist es dunkel, in der Scheibe sieht man sein Spiegelbild. Mitten im Satz wendet er sich ab, fährt sich mit der Hand über die Augen, tut so, als sei ihm etwas hineingekommen. Dann zieht er ein Taschentuch raus, schnäuzt sich die Nase und verlässt schnell den Raum.
Jawans Ältester ist gerade 16 geworden, die Kleinste ist drei. Sie kennt den Vater nur vom Telefon und Bildschirm über Skype. Die Kleinste sei immer zuerst am Apparat, wenn er anrufe, erzählt Jawan. „Baba, wann kommst du mal zu mir?“, rufe sie dann fröhlich ins Telefon. „Alemania ist sehr weit“, antwortet er dann.
„Deutschland ist ein soziales Land“
Jawan kam im Herbst 2015 auf der Balkanroute mit dem großen Flüchtlingstreck nach Deutschland. Jawan ist Akademiker, er ist nicht mehr ganz jung. Als er in Syrien aufbrach, geschah das in dem Glauben, dass es sechs, maximal acht Monate dauern würde, bis die Familie in Deutschland wieder vereint sei. Der Unterschied zwischen subsidiärem Schutz und Asyl nach der Genfer Flüchtlingskonvention war ihm nicht bekannt. Er habe gehört, dass Deutschland Arbeitskräfte brauche, sagt Jawan. Mit der Familie in Deutschland in Sicherheit ein neues Leben aufbauen – das sei sein Ziel. „Ich habe gedacht, Deutschland ist ein großes soziales Land, eine Million Flüchtlinge auf 80 Millionen Einwohner – das ist kein Problem.“
Subsidiärer Schutz Diesen eingeschränkten Schutzstatus erhalten Geflüchtete, die nicht unter die Genfer Flüchtlingskonvention oder das deutsche Grundrecht auf Asyl fallen. Sie bekommen nur eine Aufenthaltsberechtigung von einem statt drei Jahren.
Der Familiennachzug Der Nachzug der Kernfamilie von Flüchtlingen mit eingeschränktem Schutz bleibt bis 31. Juli ausgesetzt. Ab August dürfen sie wieder Angehörige nach Deutschland nachholen, aber nur im Umfang von bis zu 1.000 Menschen pro Monat. Dazu gibt es die bereits bestehende Härtefallregelung. (dpa)
Warten. Vielleicht. Geduld. Diese Begriffe sind für Jawan Synonyme für Deutschland geworden. Warten mit Tausenden anderen Flüchtlingen vor dem Berliner Lageso auf Erstregistrierung. Warten auf einen Anhörungstermin beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf). Jawan ist schon fast ein Jahr in Berlin, als der Brief mit dem Termin endlich kommt.
Danach kommt das Warten auf den Bescheid. Drei weitere Monate vergehen, bis der endlich kommt. Nur den subsidiären Schutzstatus, auch der kleine Status genannt, hat das Bamf Jawan zuerkannt. Die Nachricht ist niederschmetternd.
Aufgrund politischer Vorgaben gewährt das Bamf Syrern seit März 2016 im Regelfall nur noch subsidiären Schutz. Zeitgleich setzte die Große Koalition den Familiennachzug für subsidiär Geschützte bis März 2018 aus. Folge davon ist, dass viele von ihnen dagegen vor dem Verwaltungsgericht klagen.
Er telefoniert endlos mit seiner Frau
Auch Jawan klagt gegen den Bescheid des Bamf. Einstweilen sind aber alle Hoffnungen auf ein baldiges Wiedersehen mit der Familie zerstört. Für Jawan ist das eine schwere Zeit. Wenn in der Wohngemeinschaft längst alle schlafen, schimmert unter seiner Zimmertür Licht durch. Er telefoniert endlos mit seiner Frau, manchmal sind die Stimmen sehr laut. Nicht immer liegt das an der schlechten Verbindung.
Am Morgen sitzt Jawan mit zerfurchtem Gesicht am Frühstückstisch. Er hat kaum ein Auge zugetan. Tagsüber kann er sich ablenken, nachts liegt die Seele bloß. Um 8.30 Uhr morgens verlässt er das Haus. In Gedanken bei der Familie, fällt es ihm zwar schwer zu lernen, aber er geht immer zum Deutschkurs.
An die Klage und an das Datum März 2018 klammert sich Jawans ganze Hoffnung. Das Jahr 2017 kommt und geht. Die Bundestagswahlen haben stattgefunden, die Jamaika-Sondierungen sind geplatzt, es läuft wieder auf eine Große Koalition hinaus. Die sozialen Netzwerke der Flüchtlinge sind immer auf neuestem Stand.
Am 12. Januar 2018 bricht für Jawan eine Welt zusammen. Wenn ab August 1.000 Angehörige im Monat kommen können – wird es vermutlich Jahre dauern, bis die Frau und die vier Kinder in Berlin sind. Jawan versteht nicht, wie ein verbindliches Datum – der März 2018 war das für ihn – einfach so ausgehebelt werden kann. Er spricht von Betrug – so viel Deutsch kann er schon.
Eine Rückkehr wäre Selbstmord
Wenn er die Entwicklung selbst nicht versteht, wie soll er das dann anderen erklären? In der Nacht telefoniert Jawan lange mit seiner Frau. Am Ende vereinbaren sie, den immer noch ausstehenden Prozess vor dem Verwaltungsgericht abzuwarten. Für den Fall, dass die Klage abgewiesen wird, kündigt Jawan seiner Frau an: „Dann komme ich zurück.“ Die Frau, so erzählt es Jawan, erwidert: „Vielleicht kommst du nie bei uns an, weil sie dich bei der Einreise direkt ins Gefängnis werfen.“
Eine Woche nach dem Telefonat überfällt das türkische Militär Afrin. Jawan ist klar: Eine Rückkehr wäre Selbstmord. Jeder Blick aufs Handy ist für ihn mit der Angst verbunden, eine Todesnachricht vorzufinden. „Wenigstens du bist in Sicherheit“, habe der Vater neulich am Telefon gesagt. Die Mutter habe laut geklagt. „Ich habe zu ihr gesagt, sie soll lieber für die kurdischen Kämpfer kochen, statt zu jammern.“ Das Einzige, was Jawan tun kann: demonstrieren gehen. Für den Familiennachzug und gegen den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan.
Wenn Jawan seine Deutschprüfung besteht, hat er im März B2-Level. Dann will er sich Arbeit suchen.
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