Entschädigungszahlungen für NS-Opfer: Kampf um die Würde
Vor 70 Jahren zahlte die Bundesrepublik erstmals Entschädigungen an Holocaust-Überlebende. Israel brauchte das Geld, Deutschland wollte sich reinwaschen.
W ie lässt sich ein millionenfacher Völkermord finanziell entschädigen? Die Frage bleibt bis heute kontrovers. Vor 70 Jahren wurde sie ganz konkret ausgehandelt. Am 10. September 1952 unterzeichneten Politiker_innen ein bis dahin in der Geschichte der Menschheit äußerst außergewöhnliches Abkommen in Luxemburg.
Sechs Monate lang verhandelte die Bundesregierung unter Adenauer gemeinsam mit Israels Außenminister Moshe Sharett und der Jewish Claims Conference hinter verschlossenen Türen über Entschädigungszahlungen für Holocaust-Überlebende. Am Ende kam es zu einer Summe von 3,5 Milliarden D-Mark. Das Ende des NS-Regimes, das Millionen von Menschen systematisch ermordet hatte, lag da erst sieben Jahre zurück.
Rimma Lerman hatte gerade erst die Schule in Moskau beendet, als die Verhandlungen für das Luxemburger Abkommen im Jahr 1952 begannen. Obwohl das Abkommen auch indirekt etwas mit ihr zu tun hatte, hat sie damals nichts davon gewusst. Die heute 87-Jährige erinnert sich vielmehr daran zurück, dass im Jahr 1952 der Antisemitismus in der Sowjetunion besonders schlimm entfacht ist. Stalin ließ damals in der sogenannten „Ärzteverschwörung“ jüdische Ärzt_innen verfolgen und ermorden, nachdem er ihnen in seinem antisemitischen Verfolgungswahn vorgeworfen hatte, ein Komplott gegen ihn zu planen.
Auch an den Tag, an dem Lermans Familie vor den Nazis fliehen musste, erinnert sich die Seniorin heute noch genau. „Ich weiß noch, wie wir an meinem sechsten Geburtstag, dem 17. August 1941, im Zug saßen, um vor den Nazis zu fliehen und ich mich damals gefragt habe, warum ich keine Geschenke kriege und wir nicht feiern.“ Gemeinsam mit ihrer Mutter und ihrem älteren Bruder überlebte Lerman den Holocaust unter schwierigsten Bedingungen im Osten Russlands. Ihr Vater fiel 1942 im Krieg, als er für die Rote Armee gegen die Deutschen kämpfte. Die Mutter zog die beiden Kinder nach dem Krieg in sehr armen Verhältnissen allein in Moskau groß.
Knapp 2.500 Kilometer entfernt von Rimmas damaliger Heimatstadt Moskau lösten die Verhandlungen für das Luxemburger Abkommen von Anfang an heftige Kontroversen aus – sowohl auf deutscher als auch auf israelischer Seite. In Israel wurden die Entschädigungszahlungen unter den Gegner_innen als „Blutgeld“ bezeichnet. Viele Israelis konnten nicht fassen, dass sich ihre Regierung mit dem Land der Mörder an einen gemeinsamen Verhandlungstisch setzte. Der israelischen Regierung warfen sie vor, die Würde der Ermordeten zu verkaufen und Deutschland, sich von seiner Schuld freikaufen zu wollen. Es gab massive Proteste und sogar die Angst vor einem Bürgerkrieg in Israel. Im israelischen Parlament flogen Steine, Gegner_innen des Abkommens verschickten eine Briefbombe an Adenauer.
Auch der Begriff „Wiedergutmachungsabkommen“, mit dem die deutsche Regierung einen Euphemismus für die Entschädigungszahlungen schaffte, wurde von jüdischer Seite abgelehnt und scharf kritisiert. Trotz Protesten von Betroffenenorganisationen bezeichnet die Bundesregierung die Entschädigungszahlungen bis heute als „Wiedergutmachung“. Der heutige Repräsentant der Jewish Claims Conference, Rüdiger Mahlo, sagt dazu: „Die Shoah-Überlebenden haben den Begriff immer abgelehnt und akzeptieren ihn bis heute nicht. Die systematische Entrechtung und Verfolgung, das Leid, die barbarische Zerstörung des jüdischen Lebens in Europa, die Ermordung ganzer Familien, der Raub des Eigentums, das Leben von ermordeten Eltern, Großeltern, Kindern kann nicht wieder repariert, kann nicht ‚wieder gut‘ gemacht werden.“
Doch die israelische Regierung hatte 1952, trotz massiver ideologischer Zweifel, keine andere Wahl, als mit dem Land der Mörder zu verhandeln. Der junge Staat stand kurz vor einem Bankrott und brauchte dringend Geld für den Aufbau. Das Land hatte seine knappen finanziellen Ressourcen für die Aufnahme von Millionen Überlebender der Shoah aufgebraucht und sah sich gezwungen, die deutschen Entschädigungszahlungen anzunehmen. Deutschland war damals der einzige Geldgeber.
Rüdiger Mahlo, Jewish Claims Conference
Als das Abkommen mit einer knappen Mehrheit beschlossen wurde, verpflichtete sich Deutschland dazu, die Entschädigungen in Höhe von drei Milliarden D-Mark innerhalb von 14 Jahren zu zahlen. Dabei sollte der größte Teil in Form von Waren und Rohstoffen an Israel geliefert werden. Die Jewish Claims Conference, die Organisation, die die Entschädigungsansprüche von Shoah-Überlebenden vertritt, sollte weitere 450 Millionen D-Mark erhalten.
Die Bundesregierung unter Adenauer hatte großes Interesse daran, das Abkommen so schnell wie möglich unterzeichnen zu lassen. Es war eine der Vorbedingungen der Alliierten, um den Besatzungsstatus der Bundesrepublik aufzuheben und das internationale Ansehen in der Welt wiederherzustellen. Doch auch in der Bundesrepublik regte sich vehement Protest gegen das Abkommen. Eine Mehrheit der Bevölkerung lehnte die Entschädigungszahlungen ab. Umfragen zufolge fanden sie die Zahlungen zu hoch oder bezeichneten sie als „unnötig“. Nur elf Prozent der Deutschen befürwortete die Verhandlungen mit Israel. Selbst im Bundestag gab es 1952 Proteste dagegen. 238 der 358 anwesenden Abgeordneten stimmten dem Vertrag am 18. März 1953 zu, 44 Volksvertreter_innen blieben der Sitzung fern. Während die SPD damals geschlossen hinter dem Abkommen stand, enthielten sich zahlreiche CDU-Abgeordnete der Abstimmung.
Sieben Jahre nach den Nürnberger Prozessen war die deutsche Gesellschaft von einer tatsächlichen Entnazifizierung weit entfernt. In vielen Behörden, in den Gerichten, bei der Polizei und in der Politik saßen weiterhin die gleichen Menschen, die bereits während des Nationalsozialismus Karriere gemacht hatten, wie beispielsweise Hans Globke, der unter Adenauer zum Chef des Bundeskanzleramtes ernannt wurde. Auch der seit Jahrhunderten in der weiß-christlichen Gesellschaft fest verankerte Antijudaismus und Antisemitismus verschwanden nach 1945 nicht einfach über Nacht. So herrschte kurz nach dem verübten Völkermord weitgehend Konsens darüber, dass die Bundesregierung, die als offizieller Rechtsnachfolger des nationalsozialistischen Regimes galt, den NS-Überlebenden gar nichts schuldig sei.
„Das wundert mich nicht“ sagt Svetlana Antonova. „Was kann man von einer Gesellschaft erwarten, die erst vor sieben Jahren den Krieg verloren hatte und zehn Jahre zuvor noch begeistert von allem war?“ Antonova arbeitet bei der ZWST, der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland. Sie unterstützt seit 2006 Holocaust-Überlebende dabei, ihre Anträge für Entschädigungszahlungen zu stellen. Antonova gehört zur zweiten Generation Holocaust-Überlebender. Ihre Eltern stammen aus Kiew und konnten rechtzeitig vor den Nazis in den Osten Russlands fliehen. Der Teil ihrer Familie, der es nicht geschafft hat, wurde im größten Massaker an Jüdinnen_Juden im Zweiten Weltkrieg ermordet. Bei der Massenerschießung im ukrainischen Babyn Jar wurden innerhalb von 48 Stunden mehr als 33.000 jüdische Frauen, Männer und Kinder grausam von den Nazis hingerichtet. Heute unterstützt Antonova Überlebende in ihrem Alltag.
Für die individuellen Entschädigungszahlungen ist sowohl die Zentralwohlfahrtsstelle als auch die Jewish Claims Conference zuständig. Denn zunächst lieferte die Bundesrepublik dem israelischen Staat, wie im Luxemburger Abkommen vereinbart, vor allem Exportgüter. So wurde Israel der größte Abnehmer deutscher Produkte. Die Zahlungen halfen nicht nur beim Aufbau der israelischen Infrastruktur, sondern befeuerten auch das sogenannte „deutsche Wirtschaftswunder“. Während Deutschland paradoxerweise von den Entschädigungen profitieren konnte, lebten viele NS-Verfolgte weiterhin in bitterer Armut, da sie von den Entschädigungszahlungen ausgeschlossen wurden.
So ging es auch Rimma Lerman, deren Familie laut dem Abkommen zunächst keinen Anspruch auf Entschädigungszahlungen hatte. Denn darin wurden nur wenige Holocaust-Überlebende als Betroffene des Nationalsozialismus anerkannt. Berechtigt waren zunächst keine NS-Überlebenden, die im sowjetischen Raum, dem sogenannten „Eisernen Vorhangs“ verfolgt wurden.
Erst in den 1990er Jahren wurden die Ghettos und Konzentrationslager in Teilen der ehemaligen Sowjetunion, wie der heutigen Ukraine, von der Bundesregierung in die Liste der Orte aufgenommen, die ebenfalls einen Anspruch auf Entschädigungszahlungen stellen konnten. „Zu verdanken war das Historiker_innen der Jewish Claims Conference, die nachweisen konnten, dass es viele weitere kleine Ghettos in Osteuropa gab, die von der Bundesregierung als solche zunächst nicht anerkannt wurden“, erzählt Antonova.
Dass die Überlebenden der ehemaligen Sowjetunion nicht als direkte Betroffene des Nationalsozialismus anerkannt und somit von den Zahlungen lange ausgeschlossen waren, führte auch dazu, dass eine große Anzahl bis heute in Armut lebt, sagt Mahlo. „Das betrifft gerade Überlebende aus Osteuropa, die in ihrem heutigen hohen Alter häufig eine ungesicherte Existenz führen“, weiß er. „Die späteren Entschädigungszahlungen nach dem Fall des Eisernen Vorhangs sind für die Überlebenden in Mittel- und Osteuropa eine Erleichterung. Trotzdem bleiben viele von Ihnen auf kontinuierliche Hilfe angewiesen. Armut, Vereinsamung und Pflegebedürftigkeit prägen das Bild.“
Lerman sagt, sie hatte Glück. Denn Anfang der 2000er entschied sie sich gemeinsam mit ihrer Familie als sogenannte jüdische Kontingentgeflüchtete nach Deutschland zu kommen. Wenn sie in Moskau geblieben wäre, hätte ihre kleine Rente trotz der Entschädigungszahlungen niemals ausgereicht, um vor Ort ein Leben in Würde zu führen.
Als das Luxemburger Abkommen Ende der 1960er ausgelaufen war, wurden weitere Entschädigungsabkommen ausgehandelt. In den 2000er Jahren kamen beispielsweise noch Entschädigungsabkommen für Zwangsarbeiter_innen dazu. Diese mussten durch die Betroffene selbst erkämpft werden, die vor US-amerikanischen Gerichten geklagt haben, ergänzt der Leiter des Bundesverbandes für NS-Verfolgte, Dr. Jost Rebentisch.
Um negative Schlagzeilen zu vermeiden, richtete die Bundesregierung daraufhin die Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft ein (EVZ), die symbolische Zahlungen an etwa 1,6 Millionen noch lebende ehemalige Zwangs- und Sklavenarbeiter_innen, von insgesamt 26 Millionen Zwangsarbeitenden, leistete. „Freilich nur dann, wenn im Gegenzug auf alle weiteren Ansprüche gegen Deutschland oder deutsche Unternehmen verzichtet wurde“ führt Rebentisch weiter aus.
Auch Jahrzehnte später regt sich weiter vehementer Protest in der deutschen Nachkriegsgesellschaft gegen die Entschädigungszahlungen. Organisationen wie die Jewish Claims Conference erhalten massive holocaustrelativierende Drohbriefe, erzählt uns Antonova, die bis 2006 auch bei der Claims gearbeitet hat.
Und auch die Auflagen für die Zahlungen bleiben unübersichtlich. Für Menschen, die den Schrecken des Holocaust überlebt haben, die schwer traumatisiert sowie emotional, familiär und wirtschaftlich gebrochen sind, war es bereits in den 1960er Jahren unvorstellbar, seitenlange Formulare auf Deutsch auszufüllen und einen Beweis vorlegen zu müssen, dass sie unter dem Nationalsozialismus gelitten haben. „Die Anträge sind so kompliziert, dass sich selbst Sachbearbeiter_innen schwertun, die Anträge auszufüllen,“ erklärt Antonova. Für viele Betroffene stellt die Antragstellung auf Entschädigungszahlungen auch heute eine Tortur dar. Die Antragstellenden müssen Fragen beantworten, die grausame Erinnerungen und Traumata wecken: „Wo waren Sie? Mit wem waren Sie? Wo war Ihr Vater? Wo war Ihre Mutter? Haben Sie Geschwister? Waren sie dabei?“, zählt Antonova auf.
Wenn ein Antrag einmal ausgefüllt ist, heißt das noch lange nicht, dass er bewilligt wird. Immer wieder erhalten Überlebende Ablehnungen vom Amt, erzählt Antonova weiter. Eine Holocaust-Überlebende, die mit zwölf Jahren ins Ghetto deportiert wurde und dort unter menschenunwürdigsten Verhältnissen schuften musste, stellt Jahrzehnte später einen Antrag für Entschädigungszahlungen. Vom Amt erhält sie eine Ablehnung. Die Begründung: Es sei gar nicht möglich, dass sie als 12-jährige Zwangsarbeit verrichten musste, denn die Arbeit für Minderjährige sei in Deutschland verboten. Für viele Betroffene stellt der Kontakt mit den deutschen Behörden eine Retraumatisierung dar. „Es fühlt sich an, als würden die Behörden ihnen erneut ins Gesicht spucken“, sagt Antonova.
Doch selbst diejenigen, die alle formalen Kriterien für die Entschädigungszahlungen erfüllen, erhalten Ablehnungen vom Amt, erzählt sie weiter. Auch Lerman stellt erst Jahrzehnte später einen Antrag auf Entschädigungen. Erst, als sie nach Deutschland migriert, erfährt sie davon, dass sie als Holocaust-Überlebende überhaupt einen Anspruch auf eine Entschädigung haben könnte. Beim Ausfüllen der Anträge erhält sie unter anderem Hilfe durch die jüdische Gemeinde in Köln. Allein hätte sie das nicht geschafft. Die heute 87-Jährige ist dankbar für die finanzielle Unterstützung. Auch wenn sie heute in sehr bescheidenen Verhältnissen lebt, reicht es aus für sie.
Svetlana Antonova, Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland
Das geht nicht allen Holocaust-Überlebenden so, meint Mahlo: „Aufgrund unserer Erfahrungen wissen wir, dass viele Überlebende in großer Armut leben. Das hat in verschiedenen Ländern unterschiedliche Gründe. Zum einen sind es gesundheitliche Probleme, die auch auf den Holocaust zurückzuführen sind. Zum anderen berufliche Einschränkungen, auch aufgrund von fehlenden Ausbildungschancen in den entscheidenden Lebensjahren. Allem übergeordnet mussten sie ein Leben bestreiten, welches bereits am Beginn mit der schweren Bürde des Holocaust belastet wurde.“
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