Spurensuche mit App: Geschichten von Zwangs­ar­bei­ter:innen

Eine neue App informiert über 99 Berliner Orte der Zwangsarbeit. So soll ein dezentrales, digitales Memorial entstehen.

Das Eingangsschild des Dokumentationszentrums NS-Zwangsarbeit in Berlin-Schöneweide.

99 Orte der Zwangsarbeit in ganz Berlin können Nut­ze­r:in­nen mit einer neuen App erkunden Foto: picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild | Jens Kalaene

BERLIN taz | Kreuzberg, Möckernstraße 139. Ein monumentales Gebäude mit schmalen Fenstern und sandfarbener Natursteinfassade, die vordere Ecke ist abgerundet. Heute sind hier ein Hotel und ein Restaurant untergebracht. Früher, von der Errichtung in den 1930er Jahren bis kurz nach der Wende, befand sich in dem Gebäude ein wichtiges Postamt: das Postamt Südwest 11.

Weil dort während der NS-Zeit tschechische Zwangs­ar­bei­te­r:in­nen eingesetzt wurden, ist das denkmalgeschützte Haus als gelber Pin in der App „Human Commodity – Ware Mensch“ eingezeichnet. Die Anwendung hat das Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit in Schöneweide gemeinsam mit dem Komponist Marc Sinan konzipiert. Sie erinnert an die Schicksale von Zwangs­ar­bei­te­r:in­nen in Berlin. Zu diesem Zweck finden Nut­ze­r:in­nen 99 Geschichten in der kürzlich veröffentlichten App, dazu 99 gelbe Pins auf einer digitalen Karte Berlins.

Also: Kopfhörer raus, Anwendung starten, Möckernstraße 139 auswählen. Ein Sprecher liest die Geschichte von Karel Jakeš aus der Ich-Perspektive vor, darunter liegt ein stolpernder Schlagzeug-Beat, der von atmosphärischen Hallklängen durchzogen wird.

„Ich fuhr nach Hause und wollte nicht mehr zurückkehren“, tönt es aus den Kopfhörern. „Ich wollte nicht, weil ich hab Angst, weil Flugangriffe sind, weil uns da Bettwanzen beißen, so dass wir nicht schlafen können.“ Jakeš, erfährt man wenig später von einer anderen Sprecherstimme, wurde 1942 zur Zwangsarbeit bei der Reichspost in Berlin einberufen.

Erzählungen aus Ich-Perspektive

Die kurzen Audio-Clips, die es in der App zu hören gibt, sind stets ähnlich strukturiert. So wie im Beitrag zu Karel Jakeš klärt eine Sprecherstimme zunächst über Adresse und Hintergrund auf. Danach folgt eine Erzählung, häufig aus der Ich-Perspektive, bevor weitere Informationen zur Person oder zum Ort den Beitrag abschließen.

Untermalt sind die Geschichten mit eigens dafür komponierten Klängen, die Atmosphäre und Spannung erzeugen. Zudem können Nut­ze­r:in­nen die eingesprochenen Texte in der App mitlesen – auf Deutsch und auf Englisch. Darüber hinaus bietet die Anwendung sieben Routen an, um mehrere Gedenkorte nacheinander zu erkunden.

Insgesamt lebten in Berlin 500.000 Zwangs­ar­bei­te­r:in­nen in 3.000 Unterkünften, heißt es auf der Startseite der App. Die 99 „musikalischen Miniaturen“ bilden also nur einen Bruchteil ab, doch sie sollen nach Willen der Ent­wick­le­r:in­nen „stellvertretend für alle Opfer von NS-Zwangsarbeit“ stehen.

Dem Thema Zwangsarbeit widmet sich allerdings nicht nur „Human Commodity – Ware Mensch“. Die Gedenkstätte des KZ Sachsenhausen hat 2019 die App „Satellite Camps“ eingeführt, mit der sie sechs KZ-Außenlager im Stadtgebiet von Berlin vorstellt. Und die Berliner Geschichtswerkstatt informiert mit einer Website über Orte der Zwangsarbeit in Berlin. Auch diese als Karte aufgebaute Seite soll es künftig als App geben.

Thematisch breiter aufgestellt ist die Anwendung berlinHistory des gleichnamigen Vereins. Nut­ze­r:in­nen dieser App können verschiedene Zeiträume und Themen einstellen, zu denen sie Orte angezeigt bekommen möchten, darunter auch zur Zwangsarbeit. Dazu bietet die App Fotos und historische Dokumente.

Die neue Human Commodity-App weist noch einige kleine Konstruktionsfehler auf – so stoppt etwa der Ton, sobald der Handy-Bildschirm sich ausschaltet, und die Anwendung hängt sich gelegentlich auf. Dennoch lädt sie – wie auch die anderen Apps – dazu ein, Berlin mit anderen Augen zu erkunden. Und um das zu tun muss man meist nicht mal weit laufen: denn Orte, an denen Zwangs­ar­bei­te­r:in­nen gelebt oder gearbeitet haben, finden sich in Berlin fast an jeder Ecke.

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