Entomologe im Interview: „Die Artenvielfalt steigt seit Jahren“

Von den einen zu viel, von den anderen zu wenig? Insektenkundler Jens Esser über Massen hungriger Mücken und das befürchtete Insektensterben.

Erkannt? Es handelt sich um eine Brandenburger Stechmücke – im Larvenstadium Foto: dpa

taz: Herr Esser, uns steht offenbar eine massive Mückenplage ins Haus, können Sie das bestätigen?

Jens Esser: Ich kann Ihnen aus eigener Erfahrung sagen: Die ist schon in vollem Gange.

Woran liegt es, dass die Biester dieses Jahr so massiv auftreten?

Ein ganz wichtiger Grund sind die starken Niederschläge in diesem Sommer. Bei dem tagelangen Stark­regen vor drei Wochen haben sich in vielen Grünanlagen temporäre Wasserflächen gebildet. Ich selbst habe das zum Beispiel im Charlottenburger Schlossgarten beobachtet. Diese Wasseransammlungen bieten perfekte Bedingungen für Mückenlarven, die eine sehr kurze Entwicklungsdauer haben. Wenn es dann auch noch warm ist, kann der Zyklus aus Schlupf, Verpuppung und Häutung in knapp zwei Wochen abgeschlossen sein, und jetzt haben die Hunger. Die wollen Blut!

Dann sind alle, die in der Nähe von stehenden Gewässern leben, besonders betroffen?

Man muss da unterscheiden: Natürliche Gewässer sind weniger problematisch, weil dort auch andere Insekten oder sogar Fische leben, die den Mückenlarven nachstellen. Das Hauptproblem sind diese völlig tierfreien, scheinbar sterilen Gewässer. Wobei die auch ganz klein sein können. Der Blumenübertopf auf dem Balkon, die Gießkanne, ein hochkant stehender Autoreifen – manche Arten sind an so etwas sehr interessiert.

Eigentlich hieß es doch gerade, dass das große Insektensterben eingesetzt hat. Sogar die Bundesumweltministerin hat darauf hingewiesen und sich auf eine Untersuchung berufen, nach der sich die Insektenpopulation in Nordrhein-Westfalen um bis zu 80 Prozent reduziert hat. Nicht 80 Prozent der Arten, sondern der Individuen, der gesamten Biomasse. Was ist da dran?

Ich kenne diese Untersuchung des Entomologischen Vereins Krefeld natürlich auch, an deren Methoden der Erfassung und Auswertung gibt es erst einmal nichts auszusetzen. Natürlich stellt sich dann aber die Frage, warum an den untersuchten Standorten die Biomasse so drastisch zurückgegangen ist, da gibt es die wildesten Spekulationen – angefangen von der, dass die Sammeltätigkeit der Forscher selbst den Knick in den Populationen vor Ort verursacht hat. Das halte ich aber für sehr unwahrscheinlich. Ganz pauschal gilt natürlich: Gerade in stärker agrarischen Landschaften verschwinden mit Feldgehölzen oder Kleingewässern Mikrohabitate, die für Insekten eine große Bedeutung haben können. Je weniger Biotope, desto weniger Biotopbewohner, das ist ganz logisch.

Viele Naturschützer haben die Neo­nikotinoide im Verdacht, eine relativ neue Insektizidklasse, aber auch Herbizide, also Unkrautvernichtungsmittel, wie Glyphosat.

Die Neonikotinoide richten sich direkt gegen Insekten – klar, dass es dort, wo es ausgebracht wird, weniger gibt. Die Frage ist, wie weit sich das auch außerhalb der Anwendungsflächen verbreitet. Es gibt Untersuchungen, dass Flächen im Nahbereich durchaus betroffen sein können, also wenn das Mittel quasi vom angrenzenden Maisacker herüberweht. Was das Glyphosat angeht, hat es natürlich auch Folgen, wenn ich es zu unterschiedlichen Zeitpunkten ausbringe, zum Teil schon bei der Aussaat. Ich würde aber erst einmal empfehlen, auf Ursachensuche in der Umgebung der Orte zu gehen, wo bei dieser Untersuchungsreihe die Fallen stehen, und zu schauen, ob sich die Umgebung deutlich verändert hat. Man könnte auch mal genauer hinschauen, welche Arten besonders betroffen sind. Das wäre ein Ansatzpunkt.

Sie gehen nicht davon aus, dass hier ein landesweites Massensterben stattfindet?

Ich kann das weder verneinen noch bejahen. Aber nach meinen Erfahrungen sind die Ergebnisse bei Insektenzählungen hochdynamisch – was die Menge insgesamt und auch, was bestimmte Arten betrifft. Manchmal denken wir: Hui, was ist denn hier los, dann findet man plötzlich wieder nichts. Es liegt am Standort und am Wetter, es liegt auch am eigenen Vermögen oder Unvermögen. Die Situation ist jedes Jahr anders. Es gibt einen Kurzflügelkäfer, der galt in der Region Berlin-Brandenburg seit 70 Jahren als verschollen, aber vorletztes Jahr hat ihn ein Kollege bei einer Autokäscherfahrt gefunden, und in Berlin hatte ich ein Exemplar in der Lichtfalle. Im letzten Jahr war er dann wieder verschwunden. Dass eine Art in einem bestimmten Bereich definitiv ausgestorben ist, dieser Nachweis ist im Übrigen unglaublich schwer zu führen.

Da Insekten für viele Vögel, aber auch für Reptilien und kleine Säugetiere Hauptnahrungsmittel sind, müssten ja auch deren Populationen drastisch einbrechen.

Das ist richtig, und ein solch dramatischer Rückgang ist mir auch nicht zu Ohren gekommen. Es heißt manchmal, die Dohle sei in Berlin nicht mehr zu finden, weil sie für die Aufzucht ihrer Jungen große Insekten benötigt, die angeblich nicht ausreichend zur Verfügung stehen. Ich frage mich dann aber, warum das in anderen Städten nicht der Fall ist. An solche Aussagen muss man immer ein Fragezeichen machen, um Schnellschüsse zu vermeiden. Viele sagen jetzt, nach Überlandfahrten sei die Windschutzscheibe früher voller toter Insekten gewesen. Ich erinnere mich auch daran, und es passiert tatsächlich nur noch selten – aber liegt es an den Insekten oder an den Autos? Die Schrankwände, mit denen man in den Achtzigern herumgefahren ist, gibt es ja kaum noch. Ein Kollege macht regelmäßig Autokäscherfahrten, von dem höre ich immer nur, dass er verschollene Arten findet. Von einem Rückgang der Biomasse hat er noch nie berichtet.

Wie ist es um die Artenvielfalt der Berlin-Brandenburger Insekten bestellt?

Als Käferexperte kann ich sagen: Die Artenvielfalt bei den Käfern steigt seit Jahren langsam, aber kontinuierlich an. Es gibt über 4.500 Arten in Berlin-Brandenburg, und nur knapp dreißig davon wurden seit 1900 nicht mehr gefunden.

Ganz schön viele. Wie viele Insektenarten gibt es denn insgesamt in der Region?

Schwer zu sagen, weil das teilweise ganz schlecht untersucht ist. Das Drei- bis Vierfache dieser Zahl sollte es aber schon sein. Die Käfer sind die artenreichste Insektenordnung, bei den Hautflüglern, zu denen die Bienen und Wespen gehören, sollte es ähnlich sein, auch bei den Fliegen dürfte es nicht viel weniger Arten geben. Die Schmetterlinge fallen dagegen etwas ab, wobei das Gros den meisten Menschen ohnehin entgeht, weil das die nachtaktiven Falter sind. Da gibt es Familien mit amüsanten Namen, Eulen, Spanner, Spinner, die echten Motten und viele Kleinschmetterlinge mit nur wenigen Millimetern Spannweite.

Klingt, als könnten wir stolz sein auf die Artenvielfalt in unserer Stadt.

Sie ist groß, aber sie wird durch die verstärkte Bauaktivität natürlich nicht größer. Jede Brache, die verschwindet, ist ein Biotopverlust, das zur Abnahme der Individuen und langfristig sicherlich auch der Arten führt. Gerade die Bewohner trockener Lebensräume sind gefährdet, wie sie typischerweise auf brachliegenden Bahngeländen anzutreffen sind.

Gibt es Arten in Berlin, die ganz besonders gefährdet sind?

Der Heldbockkäfer zum Beispiel. Der hat in der Stadt nur noch einige wenige Vorkommen, was direkt mit dem Eingreifen des Menschen zu tun hat. Die Art ist bei der Standortwahl fast schon divenhaft, sie lebt fast ausschließlich in alten Eichen. Genau diese Bäume stehen aber aus Gründen der Verkehrssicherheit im Fokus der Behörden, und Pilzkrankheiten tun ihr Übriges. Ich wage die Prognose, dass der Heldbockkäfer in Berlin in absehbarer Zeit ausstirbt.

Dafür bringt der Klimawandel faszinierende Arten neu nach Berlin, die Gottesanbeterin etwa, wie schon öfter zu lesen war.

Die kommt schon lange in Deutschland vor, aber nur an wenigen Orten wie im Oberrheintal. Bei den Vorkommen in Berlin und Brandenburg hatte mit Sicherheit der Mensch die Finger im Spiel: Sie gehen entweder auf eine Verschleppung oder sogar eine direkte Aussetzung von Tieren zurück. Dass sie sich aus eigener Kraft hier etabliert haben, ist sehr unwahrscheinlich, dafür sind die bekannten Vorkommen zu weit weg, und die Weibchen können so weit nicht fliegen. Aber es gibt auch einen ganzen Schwung eher wärmeliebender Arten, die aus eigener Kraft zu uns finden. Bei den Käfern sind das zwei bis drei Arten im Jahr, eine habe ich dieses Jahr schon selbst nachweisen können.

Was können wir für den Erhalt der Artenvielfalt tun? Diese Insektenhotels, die man sich auf den Balkon hängt, scheinen nie besonders gut besucht zu sein.

Wer einen Garten hat, sollte eine möglichst große Vielfalt an Strukturen bereithalten – an Pflanzen und Böden. Lassen Sie an manchen Stellen altes Laub oder Totholz liegen. Ein Kompost ist natürlich auch ein Quell des Lebens. Gehen Sie großzügig mit Wildkräutern um, also mit den Pflanzen, die immer als Unkraut bezeichnet werden. Vermeiden Sie eher große, gefüllte Blüten, bevorzugen Sie heimische Flora.

Und die Insektenhotels?

Deren Bedeutung für ihre potenziellen Bewohner ist umstritten. Das ist wahrscheinlich wie das Vogelfüttern im Winter: Es hilft vor allem uns. Problematisch für Wildbienen oder Wespen, für die Insektenhotels vor allem gedacht sind, sind eher die fehlenden Nahrungsplätze. In jedem Fall brauchen Sie ein bisschen Geduld: Im ersten Jahr ist oft nichts los, dann wird es mehr. Und wenn Sie genauer hinsehen, entdecken Sie plötzlich, dass die Bohrlöcher in den Holzstücken plötzlich verschlossen sind. Da ist dann doch jemand eingezogen.

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