Entführter Vietnamese Trinh Xuan Thanh: Liebesgrüße aus Hanoi
Ein Jahr nach der Entführung ist immer noch nicht alles geklärt. Die Geschichte liest sich wie ein Agentenkrimi.
Am 1. August 2001 reist ein junger Vietnamese, 25 Jahre alt, nach Deutschland, bezieht ein Einzelzimmer in einem Schulungsheim in der bayerischen Kleinstadt Murnau am Staffelsee und beginnt einen Deutschkurs. Die Bundesrepublik hat ihn dazu eingeladen. Genauer gesagt: der Auslandsgeheimdienst BND.
16 Jahre später, am 23. Juli 2017, bezieht derselbe Mann wieder ein Zimmer in Deutschland, in der Kiez-Pension, Berlin-Friedrichshain. Nur wird er dieses Mal nicht lange bleiben, sondern noch am selben Tag wieder auschecken. Er heißt Quang Dung Vu und ist Mitarbeiter der Hauptabteilung 1 des Ministeriums für öffentliche Sicherheit in Vietnam. Geheimdienst.
Noch am selben Tag verschwindet ein anderer Vietnamese mitten in Berlin. Er heißt Trinh Xuan Thanh und hat vor wenigen Wochen in Deutschland Asyl beantragt. Er selbst sieht sich als Opfer eines Machtkampfes innerhalb der kommunistischen Staatsführung. Die vietnamesische Regierung sagt, er sei korrupt. Eine gute Woche später taucht Trinh Xuan Thanh wieder auf, im vietnamesischen Staatsfernsehen, abgemagert, wie ein Geist. Er sagt, er sei freiwillig in sein Heimatland zurückgekehrt. Ihm droht die Todesstrafe.
Die Ermittler, die von Deutschland aus nach ihm suchen, sind sich da schon sicher: Er wurde entführt, vom Geheimdienst seines eigenen Landes.
Ein erstaunlich ruhiges Jahr
Das ist nun ein Jahr her. Das Auswärtige Amt spricht damals von einem „präzedenzlosen und eklatanten Verstoß gegen deutsches Recht und gegen das Völkerrecht“, zwei Botschaftsmitarbeiter müssen Deutschland verlassen. Schon deutlich leiser wird die strategische Partnerschaft mit Vietnam ausgesetzt, die Entwicklungshilfe heruntergefahren, Vietnamesen mit Diplomatenpass brauchen jetzt ein Visum, um in Deutschland einzureisen.
Dieser Text wurde für den Deutschen Reporterpreis 2019 nominiert. Sechs weitere Beiträge, die in der taz erschienen sind, stehen ebenfalls auf der Liste der Nominierten. Hier sind sie alle nachzulesen. Die Entscheidung über die besten Texte fällt am 3. Dezember.
Die Bundesregierung teilt damals mit, man habe von den Entführungsplänen nichts gewusst, deshalb sei die Sache bedauerlich, aber nicht zu verhindern gewesen. Keine Nachfragen, keine Aufarbeitung im Bundestag. Es war ein erstaunlich ruhiges Jahr.
Nur die Ermittler setzen bis heute zusammen, was wirklich passiert ist. Ein mutmaßlich beteiligter Mann steht derzeit vor dem Berliner Kammergericht. Er hat die Taten gestanden und wird voraussichtlich kommende Woche verurteilt.
Aber es geht um mehr als um einen Kriminalfall. Vietnamesen in Deutschland fragen sich nun, auf welcher Seite sie eigentlich stehen – manche werden mit dem Tode bedroht. Und bis heute nicht geklärt ist die Frage: Hätten deutsche Behörden die Entführung verhindern können?
Kapitel 1: Ein besonderer Prozess
Frühjahr 2018, Berlin, Kammergericht. Der Generalbundesanwalt hat einen Mann angeklagt, weil er an der Entführung beteiligt gewesen sein soll. Die Anklage wirft ihm vor, drei Autos, die zur Entführung benutzt wurden, angemietet und sich um das Hotelzimmer des mutmaßlichen Anführers gekümmert zu haben. Kleine Taten, die ihre Wucht erst durch einen Zusatz entfalten: „Geheimdienstliche Agententätigkeit“. Und: „Gegen die Bundesrepublik gerichtet“.
Der Mann heißt Long N. H. Er ist 47 Jahre alt und betreibt ein Geldtransferbüro in Prag.
Aber das Gericht will nicht nur herausfinden, was der Angeklagte getan hat. Die zwei Richterinnen und drei Richter des Senats wollen die globale Odyssee der Entführten nachvollziehen. Sie befragen die Zeugen, die beobachtet haben, wie Trinh Xuan Thanh zusammen mit seiner Geliebten, mit der er im Berliner Tiergarten spazieren ging, um 10.47 Uhr in einen VW-Bus gezerrt wurde. Sie lassen sich von den ermittelnden Polizisten berichten, wie die Entführten in die vietnamesische Botschaft gebracht und dort festgehalten wurden, als die Ermittler längst nach ihnen suchten.
Long N. H., der Angeklagte in Berlin, scheint von all dem nicht viel wahrzunehmen. Mit rundem Rücken sitzt er neben den beiden Dolmetschern, die ihm über einen Kopfhörer simultan ins Vietnamesische übersetzen, was gesagt wird, nicht aber, was gemeint ist. Und so wird einmal selbst die Frage der Richterin, ob er denn nun wirklich gerade während der Verhandlung Kaugummi kaue, zu einem Zwischenspiel, bis er versteht, dass er das Ding ausspucken soll. Und sogar dann guckt er mit diesem leeren Blick, als ginge es gar nicht um ihn. Geht es ja auch nicht.
Unbekanntes Terrain
Der Prozess ist politisch aufgeladen und er bewegt sich auf unbekanntem Terrain. In den Zuschauerreihen sitzen Mitarbeiter der vietnamesischen Botschaft, die den Prozess genau beobachten. Mit militantem Islamismus kennen sich deutsche Gerichte inzwischen aus. Mit dem vietnamesischen Regime eher nicht.
Deshalb reicht eine simple Frage, um für Aufregung zu sorgen. Die Ehefrau des Entführungsopfers ist als Zeugin geladen. Die Richterin fragt: „Hat Ihr Mann irgendetwas erwähnt, wie er zurückgekommen ist nach Vietnam?“ Die Ehefrau schaut vorsichtig nach links, zu ihrem Zeugenbeistand. „Darf ich um eine Unterbrechung bitten?“
Am Morgen war sie von drei Personenschützern begleitet worden, über eine geschützte Treppe direkt in den Sitzungssaal 145a hinein. Eine schmale Frau, sie trägt eine elegante türkisfarbene Jacke und verdeckt ihr Gesicht mit einem Blatt Papier.
Sie berichtet davon, wie ihr Mann Karriere machte, in der Politik und der Wirtschaft, es bis in die Spitze der Bausparte des staatlichen Öl- und Gaskonzerns brachte, zum Vize-Gouverneur einer Provinz. Wie es vor Jahren Vorwürfe gegen ihn gab, es damals aber hieß, er sei unschuldig. Und wie dann die neuen Machthaber die alte Geschichte wieder herausgekramt hätten.
Warnungen aus Hanoi
Sie erzählt, wie sie mit ihren drei Kindern nach Deutschland geflohen war. Wie ihr Mann am 20. August 2016 nachkam. Sie spricht vom zurückgezogenen Leben in Berlin und der Angst, gefunden zu werden. Trotzdem erreichten sie die Warnungen aus Hanoi. Warnungen, dass Agenten auf sie angesetzt worden seien. Sie hörten, dass Vietnam Deutschland um die Auslieferung gebeten habe. Deshalb beantragt Trinh Xuan Thanh im Mai 2017 politisches Asyl, wenige Wochen vor seiner Entführung. Doch dem langen Arm des autoritären Staates entkommt er nicht.
Nach der kurzen Unterbrechung weigert sich seine Frau, auf die Frage der Richterin zu antworten. Im Saal entbrennt eine Diskussion: Greift hier ihr Zeugnisverweigerungsrecht?
Trinh Xuan Thanhs Anwältin schaltet sich ein. Weil er im Verfahren der Nebenkläger ist, darf Petra Schlagenhauf im Saal sprechen: „Mein Mandant sitzt in Vietnam im Knast“, sagt sie. „Wenn ihm Äußerungen zur Verbringung zugeschoben werden könnten, könnte das Repressalien nach sich ziehen!“ Was, wenn der Angeklagte die Informationen nach Vietnam durchsticht, oder sein Verteidiger?
Das Gericht entscheidet: Die Ehefrau muss anworten, ohne Zuschauer im Saal, die Prozessbeteiligten werden zur Geheimhaltung verpflichtet. Als hätten Pflichten und Regeln irgendjemanden zuvor von der Tat abgehalten.
Kapitel 2: Wie man Agenten enttarnt
Die Ermittler hatten Glück. Hätten die Tatzeugen im Tiergarten nicht das Nummernschild des VW-Busses aufgeschrieben und hätte der Mietwagen kein GPS-System gehabt, dann hätte es durchaus sein können, dass die Entführer nie gefunden worden wären.
Aber so kennen die Ermittler der 4. Mordkommission des Berliner Landeskriminalamtes die exakte Route, die das Entführungsfahrzeug gefahren ist. Sie finden so die Hotels, in denen die Agenten abgestiegen sind, zwei davon in unmittelbarer Nähe des Sheraton, wo Trinh Xuan Thanh vier Nächte mit seiner Geliebten verbrachte. Sie können stundenlange Aufnahmen von Überwachungskameras sichten.
Ein kleiner Mann mit Mondgesicht und Halbglatze taucht da öfter auf. Als ein Kriminalbeamter ihn mithilfe einer Google-Bildersuche identifiziert, steht fest: Das war eine Entführung, die ganz oben organisiert wurde.
Der Mann auf den Videos ist Generalleutnant Duong Minh Hung. Der Vize-Geheimdienstchef im Sicherheitsministerium, zwei goldene Sterne auf der Schulterklappe, kam eigens nach Berlin gereist. Und er checkte unter seinem echten Namen ein. Die Entführer fühlten sich sicher.
Deutsch lernen für den Kidnapping-Job
Ein anderer Entführer wird identifiziert, weil der General geizig war. Das Hotel Berlin, Berlin blockt zur Sicherheit einen Betrag auf Hungs Kreditkarte. Der wird nicht zurückgebucht, ein Fehler. Der General schickt eine Beschwerdemail und gibt für Rückfragen eine Handynummer an.
Mit dieser Nummer ist das Facebook-Profil eines anderen Mannes verknüpft. Die Ermittler jagen den Namen durch die Datenbanken. Treffer. Der Mann ist ein alter Bekannter: Quang Dung Vu, der ehemalige BND-Stipendiat.
2001 hat er gut acht Monate in Deutschland verbracht, 20 Wochen Sprachkurs beim Goethe-Institut kosteten den BND 5.368,57 Euro. Das geht aus Unterlagen des BND und der Ausländerbehörde hervor. Er reiste danach immer wieder nach Deutschland. Heute ist er stellvertretender Leiter der Abteilung „Liaison“, die für die Beziehungen zu ausländischen Nachrichtendiensten zuständig ist. Für die Entführung ist er nicht nur wichtig, weil er Deutsch spricht. Sondern auch, weil er gute Kontakte hat.
Mit all den Telefonverbindungen zwischen den Handys, die bei der Entführung eine Rolle spielten, erstellen die Ermittler ein Schaubild. Das Netzwerk der Entführer.
Auf der Suche nach dem Flug
Allmählich wird den Ermittlern klar, wie viele Personen an dem Komplott beteiligt waren. Sie sehen die Gruppe, die aus Prag anreiste, die aus Paris, die Botschaftsleute, die teils immer noch in Deutschland sind, weil sie Immunität genießen. Schlüsselfiguren sind Quang Dung Vu, der General und ein hochrangiger Geheimagent, dessen Telefonverbindungen nahelegen, dass er die Entführung mit koordiniert haben muss. Bisher wissen die Ermittler über ihn nur, dass er ein Smartphone der Marke Samsung mit Prepaid-SIM-Karte nutzte.
Wer Entführungsopfer von Deutschland nach Vietnam bringen will, steht vor einem Problem: Früher oder später muss er in ein Flugzeug steigen und an Flughäfen werden Passagiere kontrolliert. Den Ermittlern ist klar: Sie müssen den Flug finden. Aber sie landen erst einmal beim Hotel Borik, das auf einer Anhöhe in Bratislava gelegen ist, der Hauptstadt der Slowakei.
Dorthin fahren drei Tage nach der Tat zwei Autos, ein Range Rover und ein Mercedes Vito. Die Insassen, da sind sich die Ermittler sicher: einige der Entführer und der Entführte. Und dann wird es für die Ermittler schwierig. Vietnamesische Agenten mögen dauernd zwischen verschiedenen Ländern pendeln. Deutsche Polizisten können das nicht. Der Generalbundesanwalt muss Rechtshilfeersuchen stellen, das dauert und gerade im Falle der Slowakei werden sie nur dürftig beantwortet.
Im Hotel Borik findet an dem Mittwoch nach der Entführung eine Runde zusammen, die man in diesem Agentenkrimi nicht besser hätte erfinden können. Gastgeber ist der damalige slowakische Innenminister Robert Kaliňák. Vier Vietnamesen sind dabei, darunter General Hung, der in Berlin die Entführung koordiniert hatte, und ein weiterer 2-Sterne-General aus dem Ministerium. Der Kopf der Delegation heißt To Lam. Es ist der Sicherheitsminister Vietnams, Chef von Polizei und Geheimdiensten höchstpersönlich.
Entführer auf dem Weg nach Hause
Das Treffen, das hatten taz-Recherchen ergeben, dauerte nur rund 50 Minuten. Es wurde erst ein oder zwei Tage vorher angesetzt und war ein guter Vorwand für die Vietnamesen, um ihre slowakischen Freunde nach einem Flugzeug zu fragen. Acht weitere Vietnamesen stoßen zur Gruppe, darunter Quang Dung Vu, der BND-Stipendiat. Eine Gruppe von Entführern auf dem Weg nach Hause.
Die Gäste haben nicht einmal Zeit für den Nachtisch. Der A319 nach Moskau wartet am VIP-Terminal des Flughafens. Um 14.46 Uhr hebt Flug SSG004 ab, zwölf Passagiere sind an Bord, alle haben Diplomatenpässe. Einer davon, da sind sich die Ermittler sicher, ist der Entführte Trinh Xuan Thanh. Natürlich nicht unter seinem echten Namen.
Damit ist klar: Ein EU-Partnerland ist in die Entführung eines Asylbewerbers aus Deutschland verstrickt. Als dieser Verdacht Ende April aufkommt, verspricht der slowakische Ministerpräsident Peter Pellegrini Bundeskanzlerin Merkel, alles aufzuklären. Seitdem hat man von ihm nicht mehr viel gehört.
Unklar ist den Ermittlern, wie der Entführte von Moskau weiter nach Vietnam kam. Anfang August 2017 beauftragen sie die BKA-Verbindungsbeamtin, herauszufinden, ob der Entführte an Bord einer bestimmten Maschine war. Vietnam Airlines, Flugnummer VN64, Abflug vom Flughafen Moskau-Domodedowo am 27. Juli um 19 Uhr.Die Verbindungsbeamtin fragt beim russischen Geheimdienst FSB nach und meldet drei Monate später nach Deutschland: Sie habe keine Antwort bekommen und da sie nicht davon ausgehe, dass eine kommt, hake sie auch nicht weiter nach.
Kapitel 3: Kommunisten und Volksverräter
Im Minutentakt zählt er mit, wie die Nachricht aus Berlin ihr Publikum findet. Die Verhandlung ist am Mittag unterbrochen und der Journalist Trung Khoa Le nutzt die Zeit, um ein Video aufzunehmen: Der Angeklagte hat seine Mittäterschaft gestanden, das erklärt Le nun im Detail, die Kamera wackelt. Er postet es auf Facebook.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.
Stunden später werden es fast 50.000 Vietnamesen gesehen haben. Le grinst. Aber so grinst er auch, wenn er von den Morddrohungen gegen ihn spricht.
Trung Khoa Le ist einer der wichtigsten vietnamesischen Journalisten in Deutschland. In seiner Heimat herrscht Medienzensur, in der Rangliste der Pressefreiheit von „Reporter ohne Grenzen“ steht Vietnam auf Platz 175 von 180. Seine Seite, Thoibao.de, ist dort nur über Umwege zu erreichen. Im vergangenen Sommer war er der erste Journalist, der von der Entführung berichtete. Weltweit.
Bis 2016 war Trung Khoa Le das, was man linientreu nennt. Wenn die Botschaft bei ihm anrief und bat, seine Artikel zu ändern, tat er das.
Es ist eng in der Diaspora
Vor einem Jahr hatte er über den Besuch des vietnamesischen Premierministers Nguyen Xuan Phuc auf dem G20-Gipfel in Hamburg nicht in dem patriotischen Ton berichtet, den Hanoi wünschte. Trung Khoa Le erhielt Todesdrohungen und ging zur Polizei. Anschließend schoss er ein Foto von sich und seinem deutschen Presseausweis vor dem Polizeigebäude und stellte das auf seine Website. Die Botschaft: Ich bin ein deutscher Journalist. Hier ist nicht Vietnam.
Seit Trung Khoa Le über die Entführung berichtet, ruft die Botschaft nicht mehr bei ihm an. Die Staatskonzerne, die bei ihm Anzeigen geschaltet hatten, auch nicht. Die einen nennen ihn nun Volksverräter, andere bitten ihn um ein Selfie, als sei er ein Star.
Es ist eng in der Diaspora. Die Herkunft aus der gleichen Provinz, dem Norden oder Süden des Landes strukturiert auch hierzulande die Community. Und die Nähe zum Regime. Diplomaten sind Ehrengäste bei Familienfeiern oder Vereinsfesten, sie sind es, die ihre Landsleute mit lukrativen Aufträgen versorgen.
Nur will die nicht mehr jeder haben. Ein Mann erzählt der taz, dass die Botschaft ihn als Reiseleiter für eine Polizeidelegation beauftragen wollte, er aber ablehnte, aus Angst, in dubiose Machenschaften verwickelt zu werden.
Verschiebung der Loyalitäten
Ein anderer meldete sich gleich nach der Entführung bei der Polizei und erzählte, wie ihn ein Bekannter aus der Botschaft gebeten hatte, das Gepäck einer erkrankten Vietnamesin aus einem Hotel abzuholen. Es war das der entführten Geliebten, die noch am Abend mit einem Linienflug nach Hanoi gebracht wurde. Eine Aussage gegen einen Diplomaten – noch vor Monaten undenkbar.
Es sind fast nur Vietnamesen, die diese Verschiebung der Loyalitäten im Gerichtssaal verfolgen. In der einen Zuschauerreihe sitzen Mitarbeiter der Botschaft, zwei Männer staatlicher Nachrichtenagenturen, gelegentlich Angehörige des Angeklagten. „Kommunisten“ werden sie von denen in der anderen Sitzreihe genannt, den Oppositionellen. Das sind die „Volksverräter“. Trung Khoa Le sitzt vorne bei den Journalisten.
Ende Juni geht ein Hinweis bei der Berliner Polizei ein. Anonym. Schon wieder soll ein Komplott geplant sein: Der Journalist Trung Khoa Le soll verschwinden. Vergiftet werden vielleicht oder überfahren.
Der taz sagt die Polizei, es gebe kein erhöhtes Sicherheitsrisiko für Vietnamesen in Deutschland. Trung Khoa Le aber bitten sie zum Gespräch und schreiben ihm eine Telefonnummer auf. Die soll er anrufen, wenn ihm etwas auffällt. Oder er sich bedroht fühlt.
Kapitel 4: Was wussten die Deutschen?
Ein ausländischer Geheimdienst entführt einen Mann – und niemand will etwas von den Vorbereitungen gemerkt haben. Recherchiert man in Ministerien, bei Geheimdiensten, in Ermittlungsakten und Polizeiberichten, drängt sich ein anderes Bild auf. Die vietnamesische Regierung hat die deutschen Behörden und sogar deutsche Minister vor der Entführung so sehr bedrängt, Trinh Xuan Thanh auszuliefern, dass den Behörden deutlich werden musste: Sie wollen den Mann um jeden Preis.
Herbst 2016, Trinh Xuan Thanh ist aus Vietnam geflohen. Um ihn zu suchen, schickt die Regierung Polizisten der Fahndungsabteilung C52 nach Europa. Sie suchen in Prag nach ihm, in Deutschland. Zwei Beamte des Sicherheitsministeriums reisen nach Berlin, „um die Botschaft zu unterstützen“, heißt es in einem Schreiben der Bundespolizei an das LKA aus diesem Jahr.
Beamter des BKA-Referats Interpol
In Hanoi bestellt das Sicherheitsministerium im September 2016 den Verbindungsbeamten der Bundespolizei ein, dreimal. Er bekommt einen Brief überreicht, adressiert an den deutschen Innenminister. Darin: Ein Fahndungs- und Auslieferungsersuchen. Der Bundespolizist gibt es an das BKA weiter. Später erhält der BKA-Präsident persönlich einen Anruf aus Hanoi. Zu diesem Zeitpunkt ist Trinh Xuan Thanh bereits über Interpol zur internationalen Fahndung ausgeschrieben.
Wieder kommen Delegationen nach Deutschland. Am 13. September 2016 werden die Vietnamesen im Bundespolizeipräsidium in Potsdam vorstellig, ein weiteres Mal am 22. September. Die Vietnamesen sagen, sie würden die Kosten für die Rückführung übernehmen.
Ein Haftbefehl ohne Unterschrift
Der vietnamesische Ministerpräsident schickt einen Brief an Angela Merkel. Die Bundeskanzlerin verweist in ihrer Antwort auf die unabhängige Justiz, die über die Auslieferung zu entscheiden habe. Später wird sie vom Ministerpräsidenten persönlich auf die Sache angesprochen, Anfang Juli, am Rande des G20-Gipfels in Hamburg.
Die zuständigen Stellen in Deutschland haben längst die Brisanz des Falles erkannt. Sie halten es für möglich, dass Trinh Xuan Thanh ein politischer Prozess droht. Das Auslieferungsersuchen war formal nicht vollständig, der Vorwurf nur vage beschrieben: Trinh Xuan Thanh soll als Chef des Staatsunternehmens einen Verlust von 130 Millionen Euro erwirtschaftet haben. Der Haftbefehl ist nicht einmal von einem Richter unterschrieben.
Die Behörden entscheiden deshalb, den Gesuchten nicht festzunehmen. Er wird lediglich zur Aufenthaltsermittlung ausgeschrieben. Um überhaupt herauszufinden, wo er wohnt.
Die Vietnamesen lassen nicht locker: Sie weisen auf mutmaßliche Aufenthaltsorte hin, schicken deutsche Mobilnummern und das Foto eines Autokennzeichens, das zu ihm führen soll.
Es gab Gerüchte
„Im Nachhinein“, so sagte es ein Beamter des BKA-Referats Interpol-Personenfahndung vor Gericht, „verwunderte uns das schon.“ So viel Detailwissen, so aufwendig zusammengetragen. Geheimdienstarbeit.
Es gibt keine Hinweise darauf, dass die Vietnamesen offen gesagt haben: Wenn ihr Trinh Xuan Thanh nicht ausliefert, entführen wir ihn. Aber es gab Gerüchte. Hat irgendjemand in Erwägung gezogen, dass man den Asylbewerber schützen müsste? Das Auswärtige Amt, das Innenministerium, der Verfassungsschutz und der BND schweigen sich dazu aus.
Aus Sicherheitskreisen ist lediglich zu hören, dass der Verfassungsschutz, der für die Spionageabwehr im Inland zuständig ist, vom BND nicht informiert wurde. Ihm wurde nicht mitgeteilt, dass namentlich bekannte Geheimagenten nach Deutschland reisten. Aber dass ein ausländischer Geheimdienst sich so eine Aktion traut, habe ohnehin niemand geahnt.
Dabei gibt es Hinweise, dass der vietnamesische Geheimdienst schon mehrfach im Ausland Landsleute entführt hat. Aber das war in Südostasien, weit weg. Eine Entführung durch einen ausländischen Geheimdienst in Deutschland – so ein Fall war zuletzt am Ende des Kalten Kriegs bekannt geworden.
Vietnam ist der Anker des Westens in der Region
Deutschland und Vietnam verbindet eine Beziehung, die die einen pragmatisch nennen, die anderen gut. 2011 vereinbarten Bundeskanzlerin Merkel und der damalige vietnamesische Premierminister eine strategische Partnerschaft. Die Justizministerien arbeiteten eng zusammen, regelmäßig besuchen deutsche Delegationen Vietnam und andersherum. Und nicht zu vergessen: Es war das Ministerium für Staatssicherheit der DDR, dass den Vietnamesen bis 1989 half, ihren Geheimdienst zu modernisieren.
Vietnam, das ist der Anker des Westens in dieser Region. Für deutsche und amerikanische Dienste ist es wichtig, die Beziehung zu Hanoi zu pflegen, um so mehr über China zu erfahren. Wichtiger vielleicht noch als eine diplomatische Kränkung. Und das Schicksal eines Flüchtlings.
So kommt wieder Quang Dung Vu ins Spiel, der Geheimdienstmitarbeiter, der den Sprachkurs in Deutschland besucht hatte. Immer wieder bietet Deutschland Kurse für Sicherheitskräfte aus Staaten an, in denen Recht und Sicherheit noch ausbaufähig sind. Ausbildungshilfe heißt das dann. Nur profitiert von solchen Beziehungen nie nur eine Seite.
Für April 2017 beantragt Quang Dung Vu ein Visum für Deutschland. Als Referenz führt er eine BND-Mitarbeiterin in Hanoi an. Sein Reisezweck: „Gespräch mit Vizepräsident des BND“. Ein Termin ganz oben.
„Keine gerichtsverwertbaren Erkenntnisse“
Auch ein weiterer Mann wurde von Deutschland ausgebildet: Thanh Hai Le, er ist der Verbindungsbeamte der vietnamesischen Polizei in Berlin, also der Ansprechpartner für deutsche Behörden. 2012 war er als Teilnehmer am BKA-Stipendiatenprogramm in Berlin. Das Programm umfasst Sprachkurse, Workshops, Praktika. Kosten, laut Innenministerium: mehr als 22.000 Euro.
Auch Thanh Hai Le hatte seine Kontakte genutzt. Er war es, der 2016 Fahndungshinweise an die deutschen Behörden weitergeleitet hatte. Er war es, der bei der Bundespolizei vorstellig wurde. Als alles nichts hilft, steigt er am 25. Juli, zwei Tage nach der Entführung, in seinen blauen Passat, Diplomatenkennzeichen 0-147-15, und fährt mit Quang Dung Vu und den anderen in der Wagenkolonne, mit der vermutlich das Entführungsopfer nach Brünn in Tschechien gebracht wird, von wo es dann weitergeht in die Slowakei.
Zwei Monate nach der Entführung teilte der BND auf Anfrage des BKA mit: Es lägen „keine gerichtsverwertbaren Erkenntnisse“ zur politischen Verfolgung von Trinh Xuan Thanh vor. Ebenso wenig Angaben zu seiner politischen Funktion, seiner Zugehörigkeit zu politischen Lagern, dem Vorgehen der Parteiführung gegen politische Gegner sowie zu seinem Strafverfahren in Vietnam. Nichts.
Der BKA-Stipendiat Thanh Hai Le lebt nach wie vor in Berlin. Er genießt diplomatische Immunität. Und Quang Dung Vu ist heute immer noch der Ansprechpartner für den Bundesnachrichtendienst in Hanoi.
Kapitel 5: Der Deal
Am frühen Morgen des 29. Juli, sechs Tage nach der Entführung, besucht eine ungewöhnlich große Entourage Zelle 12 im Straflager B14 in Hanoi. Ein General aus dem Ministerium für öffentliche Sicherheit ist gekommen, ein Mann aus der Anstaltsleitung begleitet ihn, mehrere Wachleute und ein Gefängnisarzt. Sie wollen zu Trinh Xuan Thanh. Daran erinnert sich Nguyen Van Dai, ein Menschenrechtsanwalt, der ein paar Zellen weiter saß und vor einigen Wochen nach Deutschland ausreisen durfte. In einem Café nahe Frankfurt am Main erzählt er von seiner Haft.
Im Straflager darf jeder Häftling einmal im Monat Besuch empfangen. Die Gespräche werden überwacht. Die meisten Insassen lesen Bücher, rennen stundenlang auf der Stelle, um sich fit zu halten. Raus aus den Zellen dürfen sie nur, wenn die Ermittler Fragen haben. Immer die gleichen. Stundenlang.
Trotzdem spricht sich schnell rum, wie prominent der neue Insasse ist. Sind gerade keine Wärter in der Nähe, unterhalten sich die Häftlinge über ihre Fenster, von Zelle zu Zelle. Stille Post. Trinh Xuan Thanh reagiert nicht, als der Menschenrechtler Nguyen Van Dai versucht, ihn anzusprechen.
Trinh Xuan Thanhs Prozesse in Vietnam sind inzwischen abgeschlossen, zweimal lebenslänglich. Das Auswärtige Amt hatte verlangt, dass er nicht zum Tode verurteilt wird. Die Berufung hat er im Mai zurückgezogen. Weil er keine Hoffnung auf ein faires Verfahren habe, sagt seine deutsche Anwältin. Und womöglich auch, weil längst feststeht, dass über seine Freiheit nicht im Gerichtssaal entschieden wird.
Das Auswärtige Amt schweigt
Ende Juni kommt der Handelsrat der vietnamesischen Botschaft am Rande einer Veranstaltung in Berlin ins Plaudern. Es gebe doch längst eine Vereinbarung zwischen beiden Regierungen, sagt er, seit Dezember 2017. Darüber, wie sich die Beziehungen normalisieren sollen. Deutschland hatte stets betont, Trinh Xuan Thanh müsse dafür freikommen. Auf die Frage nach einem Deal schweigt das Auswärtige Amt.
Wenn Trinh Xuan Thanh frei ist, könnte endlich das Freihandelsabkommen mit der EU in Kraft treten, das Vietnam so wichtig ist.
Er kann jederzeit nach Deutschland einreisen. Am 5. Dezember 2017, ein knappes halbes Jahr nach der Entführung, hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ihm Asyl gewährt.
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