Englands EM-Finaleinzug: Hang zum Übersinnlichen
England hat nach zuvor uninspirierten Leistungen im Halbfinale die beste Halbzeit seines Turniers gespielt. Die Niederländer tragen das Aus gefasst.
Das kann nicht mit rechten Dingen zugehen. England steht schon wieder im Finale, nachdem doch erst bei der vergangenen Europameisterschaft eine 55-jährige Ära der Endspiellosigkeit beendet werden konnte. Und das nach den so wenig inspirierten Auftritten bei dieser EM, aufgrund derer dem Team von Gareth Southgate unter den Halbfinalisten das mit Abstand schlechteste Zwischenzeugnis ausgehändigt wurde.
Und dann erzielte mit Joker Ollie Watkins einer den entscheidenden Treffer, der für Aston Villa zwar eine sehr gute Premier-League-Saison (19 Tore) absolvierte, im Nationalteam aber bis dahin nur gegen San Marino in einem Pflichtspiel getroffen hatte und in diesem Turnier nur kümmerliche 25 Minuten zum Einsatz kam. „Ein bisschen Frust“ hatte sich angesammelt, wie Watkins nun freimütig zugeben konnte.
Viele Menschen hätten ihn vor dem Halbfinale in Dortmund mit Nachrichten auf seinem Handy ermutigt, er werde ein Tor schießen, wenn er reinkomme. „Das ist lächerlich“, habe er ihnen geantwortet. Und nun? „Ich glaube, die Nachrichten wurden wirklich ins Universum gesendet. Und ich hoffe, wir können das im Finale wiederholen.“
Wer will ihm den Hang zum Übersinnlichen nach den englischen Auftritten verdenken, die in der harten Realität teils als unterirdisch abqualifiziert wurden. Endlich passten die bislang erstaunlich selbstzufriedenen Statements von Trainer Southgate zum Spiel. Wobei er dieses Mal in ein etwas höheres Regal griff: „Wir haben vielleicht eine der besten Nächte der letzten 50 Jahre gehabt.“ Er habe die Aufgabe als Nationaltrainer übernommen, um den englischen Fußball zu verbessern. Das Team sei jetzt am Ende eines Zyklus angekommen.
Es klang fast ein wenig danach, als breite er sich selbst den roten Teppich für seinen Abschied nach der EM aus. Nach all der Kritik, die zuletzt in England auf ihn einprasselte, wäre es einer mit reichlich Genugtuung. Mit geballten Fäusten hatte er nach der Partie noch einmal eine Extra-Jubeleinheit sowohl vor den Rängen hinter dem Tor als auch vor der Gegengerade hingelegt. Der Kontrollfanatiker Southgate hat auch eine sehr emotionale Seite.
Traumhaft schönes Führungstor
Die Voraussetzungen für diese Partie waren wahrlich keine einfachen. Im Unterschied zu den Briten reiste das niederländische Team mit Euphorie und Fananhang in XXL-Größe an. Etwa 80.000 Menschen sollen über die Grenze gekommen sein. Es schien an diesem Mittwoch fast so, als hätte sich die niederländische Regierung für einen Tag die Stadt Dortmund für ein großes Schunkelfest angemietet.
Der orange gewandete Rausch wurde überdies durch das frühe traumhaft schöne Führungstor von Xavi Simons (7. Minute) aus knapp 20 Metern auf ein neues Niveau gehoben. Doch die Engländer ließen sich nicht aus der Balance bringen. Im Gegenteil, sie spielten ihre beste Halbzeit des Turniers. Ein wenig hatte das damit zu tun, dass sie erstmals nicht ein Abwehrbollwerk zu knacken hatten.
Das entfesselte etwa die Spiellust des erst 19-jährigen Kobbie Mainoo und insbesondere von Bukayo Saka, der mit seiner Schnelligkeit ab und an quer über das halbe Spielfeld den Ball vor sich hertreiben konnte, weil die Niederländer eher mann- als raumorientiert verteidigten. Durch solch eine Aktion kam es auch zum Elfmeter, weil Denzel Dumfries mit offener Sohle Harry Kane traf. Zum Unwillen des niederländischen Trainers Ronald Koeman hatte erst die Intervention des Videoschiedsrichters zu dem Urteil des deutschen Schiedsrichters Felix Zwayer geführt.
„Vielleicht Müdigkeit ausschlaggebend“
Viele Worte wollte er aber dennoch nicht darüber verlieren. Das englische Team sei in einem engen Spiel eben phasenweise das bessere gewesen, lautete sein Urteil. Eine Unaufgeregtheit, an der sich die Deutschen ein Beispiel nehmen könnten, anstatt, wie geschehen, Spielwiederholungen per Volkspetitionen bewirken zu wollen.
In der Halbzeitansprache muss Southgate sein Team auf Situationen eingeschworen haben, die nicht passieren dürfen. Jedenfalls spielte England wieder den bekannten Fehlervermeidungsfußball und kam kaum noch zu Chancen. Die Niederländer, die zumindest defensiv besser positioniert waren, allerdings auch nicht.
Bis in der Nachspielzeit eben Watkins trotz hautnaher Bewachung durch Stefan de Vrij im richtigen Moment aus spitzem Winkel der goldene Schuss ins Finale gelang. Gareth Southgate führte dies indirekt auf die besonders gute Fitness seines Teams zurück. „Am Ende“, mutmaßte er, „war es vielleicht die Müdigkeit, die ausschlaggebend war.“
Vorbereitung in den Köpfen
Mit Blick auf das Europameisterschaftsfinale am Sonntag in Berlin erklärte der 28-jährige Watkins voller Pathos: „Es ist das wichtigste Spiel in unserem Leben.“ Der These, dass die sehr offensive Ausrichtung des spanischen Teams den Engländern bei dieser besonderen Begegnung entgegenkommen könnte, wollte Southgate nicht so einfach zustimmen. Er gab zu bedenken: „Wir müssen erst einmal den Ball von ihnen bekommen.“ Und selbst wenn dies gelingen würde, müsste seine Elf außerordentlich gut spielen, weil das spanische Pressing so gut sei.
Sollte man allerdings erneut auf das Niveau des Halbfinales kommen, prognostizierte Southgate, „haben wir eine ganz gute Chance im nächsten Spiel“. Voraussetzung dafür sei optimale Regeneration. „Wir werden nicht auf dem Trainingsplatz sein“, kündigte Gareth Southgate an. Die Vorbereitung auf das Endspiel findet, so ist das offensichtlich zu verstehen, vor allem in den Köpfen statt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Schwedens Energiepolitik
Blind für die Gefahren