Moskautaz | So plötzlich kann man Zeitzeuge eines besonderen historischen Ereignisses werden. Minuten zuvor glaubten man noch, bedauernswerter Zeuge eines bedauernswerten Fußballspiels gewesen zu sein.
Zwei quälende Stunden ereignete sich im Spartak-Stadion von Moskau eigentlich nichts, was von sonderlicher Bedeutung gewesen wäre. Die vielen Aufregungen, Proteste, versteckten Fouls, Aggressionen, Gereiztheiten, all das stand in keinem Verhältnis zu dieser an Höhepunkten so bettelarmen Partie, in der beide Teams ihre Energien darauf verwendeten, bloß nicht zu verlieren.
Doch nach dem Schlusspfiff des WM-Achtelfinale gegen Kolumbien konnten die Engländer die Bedeutung dieses Spiels nicht hoch genug veranschlagen. Trainer Southgate blickte auf Jahrzehnte der Enttäuschung zurück, in denen die treuen englischen Fans dem Team zur Seite gestanden hatten, und blickte weit nach vorn: „Der heutige Tag wird den kommenden Generationen den Glauben geben, unserem Beispiel folgen zu können.“
Um dieses merkwürdige Spiel und seine so fundamental weitreichend veranschlagten Folgen zu begreifen, kommt man um den religiösen Zentralbegriff der Erlösung nicht herum. Das englische Team hatte doch tatsächlich ein Elfmeterschießen gewonnen. Etwas, was viele schon aufgrund historischer Fakten als ein Ding der Unmöglichkeit betrachtet haben. In der WM-Geschichte waren die Engländer bei jedem Elfmeterschießen (1990, 1998 und 2006) gescheitert. Und auch bei Europameisterschaften ist die Bilanz negativ.
WM 2018: Und raus bist du!
Kroatien ist bei dieser WM genau genommen nicht ausgeschieden. Das Finale haben sie trotzdem mit 2:4 gegen Frankreich verloren. Und Mandzukic (Foto) geht als erster Eigentorschütze in die WM-Geschichte ein.
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Belgien verliert das Halbfinale mit 1:0 gegen Frankreich. Im Spiel um den dritten Platz können die Belgier jedoch punkten: sie gewinnen 1:0 und erklimmen damit das WM-Treppchen. Ein historischer Erfolg.
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Ein zerplatzer Traum: Die letzte WM-Finalteilnahme der Engländer war im Jahr 1966 im eigenen Land. Auch dieses Mal hat's nicht gereicht; die Mannschaft verliert im Halbfinale 2:1 gegen Kroatien. Auch im Spiel um den dritten Platz müssen sie sich geschlagen geben: Belgien gewinnt 1:0.
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Igor Akinfeew, im Achtelfinale gegen Spanien noch Elfmeterkiller, muss diesmal zu oft hinter sich schauen. Dennoch: Das in der Fifa-Rangliste schwächste Team hat sich hervorragend geschlagen, Zeiter in der Gruppe A, Spanien rausgeworfen, gegen Kroatien im Viertelfinale gut mitgehalten. Tolles Heimturnier.
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Weit gekommen, gut verteidigt, Deutschland und die Schweiz rausgeschmissen: Schweden scheitert erst im Viertelfinale mit 0:2 gegen England.
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Brasilien war stark. Aber Belgien war stärker. Das Aus für Neymar und Co kam im Viertelfinale nach einem 1:2.
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Uruguays Torwart Muslera patzt: Frankreich gewinnt das erste Viertelfinale mit 2:0, die Urus (ohne den verletzten Cavani) sind raus. Dennoch: Starker WM-Auftritt von Uruguay. Souverän in Gruppe A gewonnen und ein gutes Achtelfinale gegen Portugal abgeliefert.
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Achtelfinale. England gewinnt gegen Kolumbien. England gewinnt gegen Kolumbien im Elfmeterschießen. Kein Witz. Kolumbien fährt heim.
Die Schweizer können ihrer Favoritenrolle nicht gerecht werden. Emil Forsberg erzielt für Schweden in der 65. Minute den einzigen Treffer des müden Achtelfinales. Michael Lang (Schweiz, Foto) schleicht vom Platz.
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Japan schockt im Achtelfinale die favorisierten Belgier mit einem Doppelschlag nach der Pause: erst Haraguchi, dann Inui (Foto). Doch Belgien kommt zurück und schafft mit einem Tor in der Nachspielzeit den Lucky Punch. Japan muss heimfahren.
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Torhüter Guillermo Ochoa kann dem Ball nur noch entgeistert hinterhergucken - das 2:0 durch den Brasilianer Willian besiegelt das Ausscheiden von Mexiko, das einigen bis dahin als Geheimfavorit gegolten hatte.
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Kroatien setzt zum Jubel an, Dänemark versteift. Erst im Elfmeterschießen konnten sich die Kroaten durchsetzen und treffen im Viertelfinale auf Russland. Dänemark scheidet als starke Defensivmannschaft im Achtelfinale aus.
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Russlands Torwart Akinfeew hält im Elfmeterschießen zwei Elfer, einen von Koke (im Bild). Die sehr defensiv spielenden Russen kommen ins Viertelfinale. Für Spanien, den Weltmeister von 2012, ist im Achtelfinale Schluss.
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Ein schönes, faires, sportliches Bild: Cristiano Ronaldo (Portugal, r.) führt den verletzten Edinson Cavani (Uruguay), der zuvor zweimal getroffen hatte, vom Feld. Wenn es ums Ergebnis geht, ist das Bild spiegelverkehrt. Uruguay ist mit weiter, Portugal scheidet im Achtelfinale nach einer 1:2-Niederlage aus.
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Argentiniens Torwart Franco Armani fliegt umsonst: Benjamin Pavard trifft zum 2:2. Frankreich gewinnt das erste Achtelfinale der WM mit 4:3 und zieht ins Viertelfinale ein. Argentinien ist raus!
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Vorrundenaus: Senegal, 4 Punkte, 4:4 Tore, Gruppe H: einmal gewonnen, ein Unentschieden, einmal verloren. Punkt und torgleich mit Japan. Raus wegen Fairplay: Japan hatte am Ende zwei gelbe Karten weniger. Ganz bitterer Abschied für Senegal.
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Polen, 3 Punkte, 2:5 Tore, Gruppe H: Seit 12 Jahren hat Polen mal wieder an einer WM teilgenommen, die Erwartungen der Fans waren hoch. Aber Robert Lewandowski und seine Mitspieler lieferten nicht.
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Panama, 0 Punkte, 2:11 Tore, Gruppe G: Panama hatte bei seiner ersten WM nicht das größte Glück, mit Belgien und England als Gruppengegner. Aber: Die Mittelamerikaner haben ihr erstes WM-Tor geschossen – gegen England! Gegen Tunesien hätte es fast noch zu einem Punkt gereicht. Fast.
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Tunesien, 3 Punkte, 5:8 Tore, Gruppe G: Tunesien war neben Marokko das einzige Außenseiterteam, das versuchte, offensiv zu spielen. Auffällig war, dass die Tunesier am Anfang (Minuten 0 bis 10) und am Ende des Spiels (85. Minute bis Ende der Nachspielzeit) schwach waren. Nach einem knappen Sieg gegen Panama schieden sie aus.
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Deutschland, 3 Punkte, 2:4 Tore, Gruppe F: Schland unter, das war's. Der amtierende Weltmeister und Gruppenfavorit verliert gegen Mexiko und Südkorea und scheidet damit in der Vorrunde aus. Verdient.
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Südkorea, 3 Punkte, 3:3 Tore, Gruppe F: So sehen glückliche Verlierer aus. Trotz WM-Aus kann sich Südkorea über ein verdientes 2:0 gegen Deutschland freuen. Die Südkoreaner scheiden als Gruppendritter vor Deutschland aus dem Turnier aus.
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Costa Rica, 1 Punkt, 2:5 Tore, Gruppe E: Im letzten Spiel sicherte man sich knapp noch einen Punkt. Geholfen hat es nicht: Das Team muss nach der Vorrunde nach Hause fahren.
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Serbien, 3 Punkte, 2:4 Tore, Gruppe E: Zuletzt traf Serbien 2014 in einem Freundschaftsspiel auf Brasilien – und gewann mit 1:0. Vier Jahre später verlieren die Serben 0:2. Damit sind sie raus aus dem Turnier.
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Island, 1 Punkt, 2:5 Tore, Gruppe D: Island ist das Team, dass irgendwie jeder mag. Die Isländer spielen körperbetont, aber nicht unfair und sie agieren als Team. Bei ihrer ersten WM-Teilnahme konnten sie zwar nicht in die K.o.-Phase vordringen, aber sie haben mit drei guten Partien gegen starke Teams eine gute Premiere hingelegt.
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Nigeria, 3 Punkte, 3:4 Tore, Gruppe D: Ach ja, Nigeria. Es ist in den letzten vier Weltmeisterschaften immer dasselbe: Man ist mit den Argentiniern in der Gruppe, um knapp an ihnen zu scheitern.
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Australien, 1 Punkt, 2:5 Tore, Gruppe C: Australien hat in dieser WM mal wieder überrascht. Aufgrund ihres Kaders, der größtenteils mit Spielern aus zweitklassigen Ligen besetzt ist, wurden die Australier mehr oder weniger abgeschrieben. In einer schweren Gruppe konnten sie aber mit jedem Gegner mithalten – fast.
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Peru, 3 Punkte, 2:2 Tore, Gruppe C: Peru hat die leidenschaftlichsten Fans der WM – eine riesige WM-Euphorie. Im letzten Spiel zeigten die Peruaner dann, wie stark sie wirklich sind und besiegten Australien mit 2:0.
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Marokko, 1 Punkt, 2:4 Tore, Gruppe B: Marokko ist der Pechvogel der WM. Gegen Iran verlor man wegen eines Eigentores in der 95. Minute. Marokko hat außerdem, im Gegensatz zu vielen Underdogs, das ganze Turnier über versucht, offensiv zu spielen. Gegen Portugal und Spanien war das Team durchaus ebenbürtig.
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Iran, 4 Punkte, 2:2 Tore, Gruppe B: Der Iran hat bei der WM positiv überrascht. Besonders beeindrucked war, dass die Iraner sich von Spiel zu Spiel verbessert haben. Sie brachten sowohl Spanien als auch Portugal ins Schwitzen.
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Ägypten, 0 Punkte, 2:6 Tore, Gruppe A: Auch Ägypten stellte einen Rekord auf. Im Tor vertraute das Team auf den ältesten Spieler der WM-Geschichte, den 45-jährigen Torwart El-Hadary. Ansonsten bot Ägypten ohne Mohamad Salah im 1. Spiel gegen Uruguay offensiv nichts, Salahs zwei Tore in den anderen Spielen halfen auch nicht mehr.
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Saudi-Arabien, 3 Punkte, 2:7 Tore, Gruppe A: Saudi-Arabien hat einen speziellen Rekord aufgestellt. Mit 5:0 erlitten die Saudis eine der härtesten Eröffnungspleiten der WM-Geschichte. Trotzdem sind sie nicht so schlecht aufgetreten wie erwartet.
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So hörten sich die Worte von Southgate schon fast nach einer messianischen Botschaft an seine Landsleute an: „Im Leben müssen wir daran glauben, was möglich ist und uns nicht von der Geschichte oder Erwartungen von außen behindern lassen.“Und er verriet: „Wir waren entspannt und haben unsere Scherze darüber gemacht.“
Das ist ein cleverer Ansatz: sich einfach dem Rest der Welt anzuschließen und herzhaft über sich selbst und die schlechten Statistiken in der Vergangenheit zu lachen. Das können nicht viele. Freilich hat man die Angelegenheit auch mit einem gewissen Ernst verfolgt. Viele Experten halten Elfmeterschießen ja für eine Glückssache. Die Erfahrung hat die Engländer jedoch gelehrt, dass man so wenig Glück eigentlich gar nicht haben kann.
Ein Wendepunkt in der Fußball-Geschichte Englands
Fleißige Studien haben sie deshalb in den letzten Monaten angestellt und das mentale Training forciert. Maßnahmen, die als Erfolg gewertet werden können. Vom Fehlschützen Jordan Henderson abgesehen war die Präzision und Sicherheit der anderen beeindruckend. Soutgate lobte: „Sie haben gemacht, was wir besprochen haben. Die Ausführung war exzellent.“
Man ahnt, was dieses Erlebnis von Moskau alles auslösen könnte. Wenn es sogar möglich ist, ein Elfmeterschießen zu gewinnen, warum sollten die Engländer dann nicht auch gleich noch die Weltmeisterschaft gewinnen. Begünstigend kommt schließlich hinzu, dass man frühstens im Finale auf Teams wie Frankreich oder Brasilien treffen würde. Diese Partie am Dienstagabend hatte aufgrund der Verlängerung zwar jede Menge Energie gekostet, aber Southgate wollte der Rechnung, dass das historische Erfolgserlebnis möglicherweise mehr Kräfte freigemacht als verbraucht hat, nicht grundsätzlich widersprechen.
Im Erfolgsfalle, das ist jetzt schon klar, wird der Abend von Moskau als Wendepunkt in die Geschichte eingehen. Southgate erzählte, er habe mit dem Team schon viel darüber gesprochen, dass man Historisches erreichen könne. Gewinnt die Mannschaft am Samstag in Samara gegen Schweden, fehlen nur noch zwei weitere Erfolge.
Auch jenseits des überwundenen Traumas vom Elfmeterpunkt gibt es einige Gründe, die für England sprechen. Die Stabilität in der Defensive, die Grundvoraussetzung eines jeden Titelgewinns, ist beeindruckend. Erst gegen Ende der regulären Spielzeit kamen die Kolumbianer überhaupt zu Torchancen. Von herben Rückschlägen wie dem späten Ausgleichtstor durch Yerry Mina in der Nachspielzeit, lässt sich dieses Team nur kurzzeitig irritieren.
Und selbst wenn nach vorn wenig gelingt, kann sich die Mannschaft stets auf Harry Kane verlassen, der bereits sechs WM-Tore erzielt hat. Dem ist übrigens so nebenbei auch ein historischer Rekord gelungen. Mit seinem Elfmetertreffer in der 57. Minute hatte er zum sechsten Mal in Folge für England ein Tor erzielt. Das war vor 79 Jahren zuletzt Tommy Lawton gelungen. Aber angesichts des überwundenen Traumas im abschließenden Elfmeterschießen, war das nur eine Randnotiz.
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