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Elektronikfestival „Unsound“ in KrakauGeschichte tanzen

Die Genres verflüssigen sich: Das hervorragend kuratierte und praxisnahe Elektronikfestival „Unsound“ in Krakau.

Kode9 spielte ein Set aus Südstaaten-HipHop, Grime, Dubstep und Footwork. Foto: Philip Skoczkowski

War er es oder war er es nicht? Am Donnerstag hallen melancholische Synthieflächen durch die alte Salzmine Wieliczka in der Nähe von Krakau. Darunter ertönt ein dumpfer Breakbeat und eine in Reverb getränkte und ihrer Natürlichkeit beraubte Frauenstimme. Es sind die Klangsignaturen des Dubstep-Producers Burial. Noch nie ist er live aufgetreten, noch hat er jemals ein DJ-Set gespielt. Und jetzt steht ein Unbekannter mit schwarzem Hoodie und Laptop auf der Bühne und droppt Samples von alten Burial-Platten und neue, unbekannte Stücke. Nach 30 Minuten bricht das Set plötzlich ab – die Bühne bleibt schwarz, dann dröhnt ein Subbass durch das Gewölbe, der bald von einer Gitarre begleitet wird.

Auf der Bühne stehen der Wiener Experimentalgitarrist Christian Fennesz und der britische Dub-Produzent Kevin Martin. Die gletscherhafte Schönheit vonFennesz’Gitarre trifft auf Bassschluchten von Martins Mischpult und werden immer wieder von verhallten Vocals durchbrochen. Mit „Surprise“ haben die Macher des Festivals „Unsound“ in Krakau die diesjährige Auflage überschrieben.

Bis zuletzt sind einige Slots im Programm geschwärzt gewesen, darunter auch der Auftritt des Enigmas im Kapuzenpulli. Seit 2003 bringt das Festival die Avantgarde aus elektronischer Musik, freier Improvisation und Avant-Rock nach Krakau. Organisator Mat Schulz war von der Musik des Ostblocks so begeistert, dass er einfach hiergeblieben ist. Heute zeigt das „Unsound“-Festival, was passiert, wenn man Pop als Kultur und nicht als Teil von Stadtmarketing und Wirtschaftsförderung betrachtet.

Anstelle eines Energy-Drink-Herstellers sind die öffentliche Kulturförderung und der lokale Trinkwasserlieferant die Hauptsponsoren. Auf den Podien sitzen keine Kreativwirtschaftsapologeten, sondern Musiker, Labelmacher und Journalisten, die sich über praxisnahe Themen unterhalten.

In ihren Debatten haben sich die einstigen Oppositionen „Underground und Mainstream“ längst angenähert. Man redet über die gleichen Dinge – die Aneignung afroamerikanischer Popgeschichte etwa. Raphael Roginski, ein polnischer Jazzmusiker jüdischer Abstammung, hat sich gerade dem Erbe von Saxofonist John Coltrane und dem Harlem-Renaissance-Dichter Langston Hughes gewidmet und das Ergebnis jüngst veröffentlicht.

Er sitzt neben der US-Jazzmusikerin Matana Roberts, selbst Saxofonistin, die mit ihrer „Coin Coin“-Trilogie an einer eigenen Version afroamerikanischer Geschichte arbeitet (siehe auch taz vom 19. Oktober). Roginski zieht Vergleiche zwischen den diasporischen Existenzen und fragt Roberts, wie sie zwischen Hommage und Aneignung unterscheiden würde. „Historisches Wissen und Kontext“, entgegnet diese akademisch knapp.

Behaarte Brust, kurzes Kleid

Roberts hatte am Mittwochabend ein Konzert im Tempel der jüdischen Gemeinde gespielt. Über Tapeloops und Samples aus der afroamerikanischen Kulturgeschichte improvisiert sie mit ihrem Saxofon lange, gedehnte Bluesmuster und singt dazu selbst geschriebene Gospel-Strophen. Autobiografie und Sozialgeschichte werden zu einer Collage, bei der schnell unklar wird, wo das Persönliche aufhört und das Politische beginnt.

Der Future-R&B-Producer Angel-Ho aus Südafrika beantwortete die Frage am nächsten Tag auf ganz eigene Weise. „Ich habe lieber Janet Jackson gehört“, entgegnete er einer Frage aus dem Publikum, die das Wissen des Musikers über frühe Industrial-Musik nachforschen wollte. Angel-Ho und die afrobelgische Musikerin Nkisi sind Mitglieder des Kollektivs NON-Records, das sich der „De-Kolonisierung von Dancefloor“ verschrieben hat. „Ich hatte als Afrobelgierin das Gefühl, nicht existent zu sein“, erklärt Nkisi, die sich nach einer kongolesischen Figur benannt hat, die mit den Toten kommuniziert.

Bei ihrem Auftritt am Donnerstagabend kommunizierte Nkisi ihre Ideen aber zu den Lebenden. Bei ihrem DJ-Set mischte sie Hardstyle mit kongolesischen Polyrhythmen, dazu imitierte sie die Samples von Gabba undDrum’n’Bassper Stimmverfremdung. Angel-Ho dagegen changierte bei seinem Liveauftritt R&B-Beats mit Noise und Samples aus der Voguing-Kultur und schickte alles durch übersteuerte Halleeffekte. Dazu steht er mit hüfthohen Schnürstiefeln, behaarter Brust und kurzem Kleid auf der Bühne. NON Records aktualisieren die idealisierte Geschichtsschreibung von elektronischer Musik als queeres oder ethnisches Identitätsexperiment – und sie sind nicht die Einzigen.

Visionist verschob die aggressiven Lo-Fi-Beats von Grime dorthin, wo ihre Straßenherkunft nur widerhallt und zu einer Fantasie von China als Hort der Zukunft mutiert. Dazu trägt Visionist ein enganliegendes braunes Top und zitiert so den hypermaskulinen Trap-Rap – ohne sich dabei nur einmal von seinem Laptop wegzubewegen.

Kuratiert wird nach dem passenden Kontrast

In Krakau ist das Experimentieren nicht nur auf die „experimentelle“ Musik beschränkt. Genres verflüssigen sich, kuratiert wird nach dem passenden Kontrast. Virtuoses kosmisches Synthesizergegniedel von Nine-Inch-Nails-Keyboarder Alessandro Cortini steht neben technisch exaltiertem Death Metal, mühsam zusammengetragenes DJ-Wissen neben akademischen Soundästhetiken.

Am Freitagabend spielte der Kölner Elektronik-Musiker Markus Schmickler im Hotel Forum, einem sozialistischen Beton-Prachtbau aus den 1970ern, ein abstraktes Konzert aus Sinustönen und Shepard-Risset-Glissandi. Einen Raum weiter bewegte sich Hyperdub-Labelchef Kode 9 durch ein Set aus Südstaaten-HipHop, Grime, Dubstep und Footwork und führte all diese disparaten Sounds zu einem globalen Bassmusik-Kontinuum zusammen. Er endet sein Set mit einem Footwork-Stück, dieser rasend schnellen House-Spielart aus Chicago, bevor der Footwork-Pionier RP Boo hinter sein Serato tritt. „Ich nehme den Club mit in die Geschichte von Footwork“, hatte er vorher im Interview angekündigt.

Sein Gig ist eine Geschichtsstunde in der Dance-Musik der Chicagoer South Side. RP Boo wird von zwei polnischen Tänzern flankiert, sein Set reicht von den Lo-Fi-Anfängen des Genres in den mittleren Neunzigern bis zu den Hochglanz-Produktionen der frühen zehner Jahre, als Footwork dank DJ Rashad die Dancefloors der Welt eroberte – auch in Krakau, wo „RP Boooooo“ nach einer Stunde mit Handtuch über dem Kopf sein Set beendet. Geschichte wird auf dem Dancefloor geschrieben und dort auch vermittelt.

Am Abschlussabend spielte die DJ The Black Madonna aus Chicago ein DJ-Set, in dem sie die lange Geschichte von House und seinen Körperpolitiken immer wieder hervorholt und in der Improvisation neu ordnet. So nah war House dem Jazz schon lange nicht mehr. So war The Black Madonna ein passender Abschluss für „Unsound“. Das Festival in Krakau ist einer der wenigen Orte, wo der balkanisierte Underground mühelos zueinander findet.

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