piwik no script img

Eintauchen bei den GehörlosenZwischen Genozid und Cyborgs

Gehörlose diskutieren im Netz rege über ihr Verhältnis zum Rest der Gesellschaft. Gibt es ein Recht auf Taubheit? Oder sollte man gleich Cyborg werden?

Manchmal festigt Technologie nur alte Vorurteile Bild: Maria Kokina

BERLIN taz | Bei kaum einer Gruppe körperlich Beeinträchtigter ist der Unterschied zwischen Selbst- und gesellschaftlicher Wahrnehmung so groß wie bei Gehörlosen. Oft als eine Behinderung wahrgenommen, tut sich bei näherer Betrachtung eine ausdifferenzierte, selbstbewusste Subkultur auf, die sich mannigfaltig äußert. Und die sich vor der Herausforderung sieht, technologische Neuerungen zu absorbieren.

Enno Park hat hier die Bedingungen der Entstehung einer Gehörlosenkultur skizziert. Seit Beginn der modernen Medizin bis in die 80er des 20. Jahrhunderts sind Gehörlose systematisch ausgegrenzt worden. Die Gebärdensprache galt lange Zeit als primitiv und wurde erst 2002 gesetzlich anerkannt. Im Schatten der gesellschaftlichen Ablehnung entwickelt sich eine verhältnismäßig abgegrenzte Parallelkultur, die sich – im Gegensatz zum gesellschaftlichen Blick auf sie – nicht als behindert verstand, sondern als sprachliche Minderheit.

Der Wendepunkt war die Entwicklung des Cochleaimplantats vor 30 Jahren, weil es damit ein technisches Gerät zur Normalisierung gab, dessen Ablehnung Außenstehende oft als Verweigerung interpretieren (unter anderem, weil im Mainstream sehr unrealistische Vorstellungen von der Funktionsweise vorherrschen. Es hat damals zur Spaltung der Community geführt.

Das Gerät ermöglicht es Menschen mit funktionierendem Hörnerv auf ein normal entwickeltes Hörzentrum zurückzugreifen, wenn sie Spätertaubte sind oder es als Kind eingesetzt bekommen. Denn damit das Implantat funktioniert, braucht es ein ausgebildetes Hörzentrum im Gehirn, das sich in der frühkindlichen Entwicklung bildet. Daraus ergab sich die Frage, ab wann und ob überhaupt Kleinkinder einer mehrstündigen Operation, wie sie zur Einsetzung der Prothese notwendig ist, unterzogen werden darf.

Abgesehen von dieser speziellen ethischen Frage, die sich weit ins Privatleben der Betroffenen zurückzieht, gibt es das größere, soziologische Problem, das vor allem in den USA seine rhetorische Zuspitzung erfahren hat. Dass es nämlich, gerade auch für Kinder, ein Recht auf Taubheit gebe, und dass durch technologische Neuerungen und gesellschaftlichen Druck ein „Genozid“ an der Community vollzogen werde. Taubheit sei keine Behinderung, also bedürfe es auch keiner Heilung durch das Cochleaimplantat. Die Rede vom Genozid ist in Deutschland nicht die Regel, kommt aber vor – beispielsweise als die gehörlose Piratenpolitikerin Julia Probst dazu twitterte.

Ein Recht auf Implantat?

Tatsächlich dreht die Diskussion bisweilen in die Gegenrichtung, am deutlichsten in der Fragestellung, ob Kinder ein Recht auf das Implantat haben. Das vorläufige Argument: Ja, denn „im Fall des CI sind die Folgen der Implantation weitgehend reversibel, die der Nichtimplantation aber nicht.“ Man könne das Kind in beiden Kulturen erziehen, und später könne es sich dann entscheiden, ob es bikulturell leben möchte oder sich einem Kreis zuordnen will.

Es sind diese Diskussionen, die schon geführt wurden und die heute noch nachbrennen; die aber von Bedeutung sein werden in den Diskussionen, die sich jetzt langsam vorbereiten. Denn wenn das Cochlea-Implantat ein Werkzeug ist, wessen Werkzeug ist es dann? Wem gehört das Cochlea-Implantat, dem Träger oder der Firma, die es produziert?

Was zunächst wie eine juristische Spitzfindigkeit klingt, bekommt eine neue Perspektive, wenn man die Frage konkreter stellt: Wer darf die Prothesen manipulieren? Sollte es technisch möglich sein, mit dem Cochlea-Implantat Ultraschall wahrzunehmen – darf man sein eingesetztes Device hacken, um sich diese Fähigkeit anzueignen? Will there be Cyborgs?

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

4 Kommentare

 / 
  • M
    Medialanthropologe

    Sie haben vollkommen Recht.

     

    Die alte Cyborg-Diskussion wird immer im Zuge des Wiederbelebens der guten alten dialektischen Kultur ins Spiel gebracht, und vergisst dabei die bisherige Geschichte.

     

     

     

    Eine Brille macht einen Menschen genauso zum Cyborg, wie ein Implantat. Wer den Unterschied des somatischen Eindringens als Kriterium nimmt, übersieht die Dimension die eine virtuelle Werkzeugnutzung schon immer in der Menschheit hatte.

     

     

     

    Die Ohrstecker eines Handys, der Topf zum Kochen, die Gabel zum Essen, etc. Beschreiben Sie es als Exteriorisierungen, Erweiterungen oder was auch immer. Der Mensch ist von "Natur aus" ein Cyborg. Von einer Natur aus, die er schon immer selbst geschaffen hat.

  • T
    tno

    Ich bin der Meinung, dass ein solches Gerät, da Teil des Körpers, auf jeden Fall Besitz der tragenden Person sein muss - ansonsten hat eine Firma allzu Kontrolle über die Sinneswahrnehmung einer Person (analog gilt dies für die aufkommenden künstlichen Netzhäute). Darüber hinaus ergeben sich bei in Firmenbesitz verbleibenden fest im/am Körper installierten Teilen allzu unschöne Szenarien, die bisher der dystopischen Science-Fiction zugeordnet wurden. Schon bei momentan verbreitet eingesetzten Geräten sind Herzschrittmacher lebenskritisch; wenn diese im Unternehmensbesitz verblieben, was passiert im Fall eines Konkurs? Was wenn Teile der Insolvenzmasse von anderen Investoren übernommen werden?

     

     

     

    Bezüglich des letzten Absatzes:

     

    Die Möglichkeit, dem Menschen normalerweise nicht zugängliche Informationen durch technische Manipulationen am Körper einigermaßen direkt mit den Sinnen wahrzunehmen existiert inzwischen; so lassen sich u.a. durch Implantation eines kleinen geeigneten Magneten nahe eines Fingernervs nach einer Gewöhnungsphase Magnetfelder teilweise erspüren. Üblicher Vorgang bisher scheint zu sein dies bei einem 'Body Modification Expert' durchführen zu lassen - anders gesagt also einem Piercing-Studio (also ohne Narkose etc).

  • G
    Gehörloser

    Das Erlernen einer Sprache ist vor allem in den frühen Jahren wichtig, ganz besonders, wenn die Lautsprache erlernt werden könnte. Wenn dies erst ab Volljährigkeit ermöglicht wird, ist es nahezu unmöglich, die Defizite vollständig auszugleichen.

     

    Jede Sprache ermöglicht die eigenständige Kontaktaufnahme zu Menschen, die diese Sprache sprechen.

     

     

     

    Wenn nun 80 Millionen Bundesbürger deutsch "sprechen", aber nur 100.000 davon in Gebärden, dann überlegen Sie doch einfach selbst, welchen Umfang an sozialen Kontakten Sie Ihrem Kind für sein(!) späteres Leben potenziell ermöglichen wollen, bzw. durch Ihre Entscheidung versagen.

     

     

     

    Eigenständige Kontaktaufnahme bedeutet: unabhängig von Dritten, es steht nicht an jeder Ecke ein Gebärdensprachdolmetscher.

     

     

     

    Natürlich kann Taubheit als Schritt der Evolution verstanden werden, aber ich als Gehörloser akzeptiere Taubheit als Defizit. Die Glorifizierung ist in meinen Augen nur egoistischer Schmarrn und kontraproduktiv für den Inklusionsgedanken.

  • I
    Interessierter

    Ich bin eher auf die ersten Klagen von Kindern gegen ihre Eltern gespannt. Wenn diese es nämlich absichtlich bzw. mit dem Kulturargument unterlassen haben, rechtzeitig ein Implantat einsetzen zu lassen.