Einsichten aus dem Rentnerhaushalt: Ein beständiger Kampf um Ordnung
In der Lokalzeitung taucht der Bischof auf, im TV trocknet der Amazonas aus. Die Ereignisse in den Nachrichten sind Ordnungsvernichter.
D er Soziologe Niklas Luhmann hat für seine Systemtheorie beeindruckende Analysen der Funktionsweisen des Rechts, der Politik, der Wissenschaft, auch der Kunst abgeliefert. Unbegreiflich erschien es mir diese Woche, dass Luhmann ein so wichtiges System ausgelassen hat wie den Rentnerhaushalt.
Konstruiert um den binären Code Ordnung/Nichtordnung, ist das System Rentnerhaushalt in unablässiger Kommunikation darüber, ob der Geschirrspüler schon voll ist, wann die Mülltonnen vom Straßenrand geholt werden müssen, welche Tablette in der Medikamenten-Wochenbox zurückgeblieben ist. Wer Teil eines Rentnerhaushalts wird, kann sich dieser Kommunikation nicht entziehen, sondern wird unabhängig vom eigenen Alter bzw. trotz Prä-Rentenstatus sofort in die Struktur eingefügt.
Notiz an LeserInnen im Rentenalter: Sollten Sie sich gerade nicht angesprochen fühlen, deklarieren Sie Ihren Haushalt gern zum Nichtrentnerhaushalt. Die Vokabel dient nur als Verständniskategorie, um einen Heimatbesuch zu verarbeiten.
Die lokale Zeitung – hier das Westfälische Volksblatt – stiftet Ordnung. Spätestens auf der zweiten Seite tauchen der Bischof oder einer seiner Angestellten auf, um Dinge gutzuheißen, die im Advent stattfinden. Die Einbruchs- und Verkehrsunfallmeldungen sind zwar wiederum tendenziell ordnungsfeindlich. Doch weiß das Westfälische Volksblatt diese so geschickt zwischen die Apotheken-Notdienste und Müllsorten-Abholzeiten einzubetten, dass der Schaden bei der Ordnungssuche überschaubar bleibt.
Das Fernsehen stiftet einerseits Ordnung. Die Nachrichten und die Talkshows kommen zu festen Zeiten, mit zuverlässig wiedererkennbaren Leuten. Auch auf Anne Will folgt ein vertrautes Gesicht. Andererseits ist das Fernsehen ein schrecklicher Unordnungsstifter. Es ist regelrecht verstörend.
Nicht das TV-Programm ist das Problem, sondern der Inhalt
Wenige Tage Fernsehkonsum in einem Rentnerhaushalt machen überdeutlich: Wir haben kein Problem mit der Qualität des Programms oder der Nachrichten. Da bemühen sich Profis, unter Fernsehbedingungen (gut aussehen, in unter 20 Sekunden auf den Punkt kommen) komplexe Sachverhalte zu erklären. Wir haben auch kein Problem mit Social-Media-Plattformen, die uns alle verwirren und aufeinander losgehen lassen.
Nein, das Verstörende sind die komplett unverdaulichen Inhalte selbst. Die Reportage aus dem austrocknenden Amazonas-Gebiet ist kaum zu ertragen, ohne loszuheulen. Die Berichte von der Klimakonferenz in Dubai handeln davon, dass deren TeilnehmerInnen nichts unternehmen werden, das Verbrennen fossiler Ressourcen zu beenden.
Und der arte-Themenabend zu Nordirland war sicherlich gutgemeint platziert. Nordirland, wo 30 Jahre Bürgerkrieg in den 90er Jahren durch mutiges, aber auch schmerzhaftes Verhandeln beendet wurden: Das ist doch ein Fingerzeig gen Ukraine oder Nahost, dachten die Programm-HerrInnen sich bestimmt. Zu lernen war jedoch vor allem, dass es zum Friedensschluss auf beiden Seiten Demokratie braucht. Das heißt nichts Gutes für die Ukraine oder Nahost. Auch zum Heulen.
Die Ereignisse selbst, von denen die Nachrichten erzählen, sind die Ordnungsvernichter. Und bei näherem Besehen erfüllt die Kommunikation im Rentnerhaushalt ihren Zweck, nämlich dem entgegenzuwirken. Der Rentnerhaushalt ist stationär, mit Fluchten wird hier nicht mehr gerechnet. Gleichzeitig bezeugt die Lebenserfahrung, was alles schiefgehen wird, wenn es schiefgehen kann. Deshalb muss Ordnung hergestellt werden, wo es noch geht.
Mir erschien es plötzlich auch sehr wichtig, die Jalousien pünktlich zum Dunkelwerden herunterzulassen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja
BGH-Urteil gegen Querdenken-Richter
Richter hat sein Amt für Maskenverbot missbraucht
Sensationsfund Säbelzahntiger-Baby
Tiefkühlkatze aufgetaut