: Einsam per Gesetz
Nachzug Der Vater ist in Deutschland, Frau und Kinder müssen im Bombenhagel in Syrien bleiben. Schikane oder Pragmatismus?
Aus Berlin Ulrich Schulte
Die Diakonie Deutschland stellt dem Plan ein vernichtendes Zeugnis aus. Die Verschärfungen beim Familiennachzug würden nicht dazu führen, „dass weniger Menschen in Deutschland Schutz suchen“, schreibt der Wohlfahrtsverband der evangelischen Kirchen. Stattdessen werde die Integration erschwert, Verfahren würden bürokratisiert und die Unterstützung der Bevölkerung für Flüchtlinge untergraben.
Der Bundestag hat am Donnerstag mit den Stimmen der Koalition das zweite Asylpaket beschlossen. Besonders umstritten ist die Reform, die es Flüchtlingen erschwert, ihre Angehörigen nach Deutschland zu holen. Schreckt dies Flüchtlinge wirksam ab, wie es CDU und CSU hoffen? Ist es eine rechtswidrige Schikane, wie es die Diakonie, die Caritas oder das Kinderhilfswerk behaupten?
Die Stellungnahme, die die Diakonie an alle Mitglieder des Innenausschusses versandte, ist eindeutig: Die Verschärfung beim Familiennachzug löse kein einziges Problem, schaffe aber viele. Mehr noch, die Trennung der Kinder von ihren Eltern widerspreche der UN-Kinderrechtskonvention und dem deutschen Grundgesetz, das die Familie unter „besonderen Schutz der staatlichen Ordnung“ stellt.
Der Plan der Koalition erhitzt die Gemüter. Wenig ist in Deutschland so heilig wie die Familie. Alle Parteien betonen stets, wie wertvoll die Liebe zwischen Eltern und Kindern sei. Und nun ordnet der Staat Einsamkeit per Gesetz an? Genau genommen schafft die Koalition den Familiennachzug nicht ab. Sie setzt ihn für zwei Jahre aus – und zwar bei den subsidiär Schutzberechtigten. Das sind Menschen, die nicht unter das deutsche Asylrecht oder die Genfer Flüchtlingskonvention fallen. Sie werden trotzdem nicht in ihre Heimat zurückgeschickt, weil dort etwa Bürgerkrieg herrscht. Ihre Aufenthaltserlaubnis in Deutschland ist befristet und muss jeweils verlängert werden. Das heißt: Sie leben in ständiger Ungewissheit.
Zu dieser Gruppe sollen künftig viele Syrer gehören – Menschen aus einem zerstörten Land also, die bisher auf das Wohlwollen des deutschen Staates hoffen konnten. Selbst Jugendliche, die allein hier ankommen, sollen ihre Eltern nicht mehr nachholen dürfen. Darauf hatte besonders die CSU Wert gelegt. Künftig wird es 16-Jährige in Flüchtlingsheimen geben, die jahrelang mit dem Wissen leben, dass ihre Eltern und Geschwister im Kriegsgebiet in Lebensgefahr schweben.
Sicher ist aber auch: Im Moment trifft die Verschärfung nur wenige Menschen. Im Jahr 2015 bekamen genau 1.707 Flüchtlinge subsidiären Schutz. 347 kamen aus Eritrea, 325 aus Afganistan, 289 aus dem Irak – und nur 61 aus Syrien. Auch bei den Jugendlichen ist die Zahl überschaubar. Gerade mal 105 unbegleitete Minderjährige bekamen 2015 den Schutzstatus zugesprochen, für den die Koalition den Familiennachzug nun beschränkt. Diese Fakten hat die Linke-Fraktion beim Innenministerium erfragt.
Die Zahl könnte aber deutlich steigen. Das fürchten Menschenrechtsorganisationen und die Opposition. Wer nach der Genfer Flüchtlingskonvention geschützt wird und wer nur „Schutz light“ bekommt, entscheidet das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Das Bamf ist direkt Innenminister Thomas de Maizière (CDU) unterstellt, der mehrfach angekündigt hat, Syrern nur noch den subsidiären – also vorübergehenden – Schutz zu gewähren.
„Wie viele Leute am Ende betroffen sind, hängt von der Spruchpraxis des Bamf ab. Also auch davon, wie die internen Anweisungen lauten“, sagt eine Grüne, die sich mit der Materie auskennt. Allerdings räumen die Kritiker des Koalitionsplans ein, dass Bamf-Beamte nur einen begrenzten Spielraum haben. Oft mischen sich in Krisenregionen politische Verfolgung und Krieg. Das Terrornetzwerk IS begründet seine Morde an Zivilisten ja politisch, die Taliban in Afghanistan tun es ebenso. Und auch das Assad-Regime bombardiert die Zivilbevölkerung aus politischen Motiven.
Fliehen die Betroffenen also vor Krieg oder politischer Verfolgung? Das Bamf wird weiter jeden Einzelfall prüfen müssen. Menschenrechtsorganisationen werfen der Koalition vor, sie treibe mehr Frauen und Kinder auf die gefährlichen Fluchtrouten über die Ägäis und den Balkan. „Die Regelung erhöht das Risiko, dass sich weitere Familienmitglieder auf den gefährlichen Weg nach Deutschland machen“, sagt Georg Cremer, Generalsekretär der Caritas.
Was? Das zweite Asylpaket ist ein Bündel von Maßnahmen. Es enthält Asylrechtsverschärfungen, die die Zahl der Flüchtlinge reduzieren sollen. Union und SPD hoffen auf einen abschreckenden Effekt.
Wie? Für Flüchtlinge mit geringer Bleibeperspektive werden Schnellverfahren eingeführt. Inklusive Gerichtsentscheid sollen ihre Verfahren innerhalb von drei Wochen abgeschlossen werden. Damit sich Flüchtlinge nicht entziehen können, gilt eine verschärfte Residenzpflicht. Verlassen Menschen den Bezirk ihrer Aufnahmeeinrichtung, wird ihr Verfahren eingestellt. Es kann nur einmalig wieder aufgenommen werden.
Was heißt das für Kranke? Abschiebungen können künftig seltener mit medizinischer Begründung verhindert werden. Nur noch „lebensbedrohliche und schwerwiegende Erkrankungen, die sich durch eine Abschiebung wesentlich verschlechtern würden“, sollen eine Abschiebung verhindern. Eine posttraumatische Belastungsstörung fiele zum Beispiel nicht darunter. „Die geplanten Regelungen diskriminieren gezielt psychisch kranke Menschen“, kritisiert die Psychotherapeutenkammer.
Wie viel weniger? Das Taschengeld für Flüchtlinge wird um 10 Euro pro Monat gekürzt. Asylbewerber erhalten Leistungen unter Hartz-IV-Niveau. (us)
Gerade Jugendliche werden darunter leiden
Ein kausaler Zusammenhang lässt sich aber nur schwer belegen. Laut dem Flüchtlingshilfswerk UNHCR steigen mehr Frauen und Kinder an Griechenlands Küsten aus Schlauchbooten – und weniger Männer. Allein im Januar zählten griechische Polizisten gut 60.000 Ankömmlinge. Davon waren 43 Prozent Männer, 21 Prozent Frauen und 36 Prozent Kinder. Im Juni 2015 lag der Männeranteil noch bei 73 Prozent. Auf der Balkanroute seien jetzt „fast ausschließlich Familien“ unterwegs, meldete ein Mitarbeiter von Ärzte ohne Grenzen im Januar aus Südserbien.
Die rechtlichen Einschätzungen zum Familiennachzug gehen in Deutschland auseinander. Während die Diakonie glaubt, dass die Verschärfung dem Grundgesetz widerspricht, behauptet Winfried Kluth das Gegenteil. Kluth ist Professor für Öffentliches Recht an der Uni Halle-Wittenberg und wurde von der Unionsfraktion um eine Expertise gebeten.
Damit der Staat Schutzberechtigte aufnehmen könne, sei es „vertretbar“, den Familiennachzug bei subsidiär Schutzberechtigten übergangsweise auszusetzen, argumentiert er. Kluth schätzt den Eingriff ins Grundrecht auch nur als „verhältnismäßige Beschränkung“ ein, weil er auf zwei Jahre befristet ist. Den Betroffenen stünden andere rechtliche Wege offen. Die sind aber mit hohem Aufwand verbunden.
Der Beschluss: Der Bundestag hat am Donnerstag mit den Stimmen der Großen Koalition das zweite Asylpaket beschlossen. In der SPD-Fraktion stimmten 30 von 193 Abgeordneten mit Nein. Linke und Grüne votierten geschlossen gegen die Reform. Am Freitag wird das Paket im Bundesrat behandelt, es ist aber nicht zustimmungspflichtig.
Das sagt die Koalition: Die Integrationsbeauftragte der Regierung, Aydan Özoğuz (SPD), verteidigte die Asylrechtsverschärfungen. Die Aussetzung des Familiennachzuges betreffe nur eine „kleine Gruppe“ von Flüchtlingen mit ungesichertem Aufenthalt, sagte Özoğuz. Die Regelung laufe zudem nach zwei Jahren aus.
Das sagt die Opposition: Der Koalition gehe es nur darum, wie sie Menschen, die sie loswerden wolle, schnell abschieben könne, kritisierte die Linken-Abgeordnete Ulla Jelpke. „Das ist nur noch unerträglich und ekelhaft.“ Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt nannte die Neuregelung des Nachzuges „unverantwortlich und schäbig“. (us)
Die SPD hat lange gegen die Verschärfungen gekämpft und am Ende nur eine Kleinigkeit hinzufügen können: Deutschland könne aus humanitären Gründen Ausländer aufnehmen, so, wie es in den Paragrafen 22 und 23 des Aufenthaltsgesetzes geregelt sei, heißt es in dem Entwurf. Dieser angebliche Erfolg der SPD ist allerdings eine Option, die schon lange besteht. Sie wird wegen bürokratischer Hürden kaum genutzt. Unbestritten ist, dass gerade Jugendliche leiden werden. Für syrische Familien ist es bisher eine rationale Strategie, den ältesten Sohn vorzuschicken.
Diese Jugendlichen gerieten nun in „ein moralisches und emotionales Dilemma“, sagt Uta Rieger vom UNHCR. Sie könnten den Auftrag, die Familie nachzuholen, nicht mehr erfüllen, könnten sich schlechter integrieren, da sie sich Sorgen um ihre Familien machen müssten. Rieger kritisiert, dass die Koalition einen legalen Zugang nach Europa schließt. Obwohl sie an anderer Stelle gerne betont, wie nötig solche Wege seien.
Besonders absurd – oder gewollt: Asylverfahren dauern meist mehr als zwölf Monate. Zwei Jahre beträgt die von der Koalition beschlossene Aussetzung. Dann warten die Familien in den Herkunftsländern oft länger als ein Jahr auf einen Termin bei der Botschaft. Die Eltern von Jugendlichen müssen aber laut Gesetz in Deutschland sein, bevor die Kinder volljährig sind. Die Verzögerungstaktik der Koalition führt also dazu, dass manche Familien dauerhaft getrennt bleiben.
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