Einigung über neue EU-Kommission: Grünes Licht für von der Leyens „Sprechpuppen“
Das EU-Parlament hat trotz erheblicher Bedenken sein „Go“ zur neuen EU-Kommission gegeben. Zum ersten Mal seit 1999 hat es kontroverse Kandidaten nicht abgelehnt.
Das Team war von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen aufgestellt worden. Ursprünglich sollte es bereits in der vergangenen Woche bestätigt werden. Doch die Anhörungen liefen nicht nach Plan. Die meisten Kommissare lasen nur die von der Kommissionschefin vorgefertigten Sprechzettel ab; die Frankfurter Allgemeine Zeitung verhöhnte sie daraufhin als „Sprechpuppen“. Zum Schluss konnten sich die Parlamentarier nicht auf eine Bewertung einigen.
Neben Fitto waren auch die spanische Kandidatin Teresa Ribera und der ungarische Bewerber Olivér Várhelyi umstritten. Nun sollen alle Wackelkandidaten durchkommen. Es wäre das erste Mal seit 1999, dass das Europaparlament auf sein demokratisches Recht verzichtet, kontroverse Kandidaten abzulehnen. Nach der letzten Europawahl 2019 wäre beinahe sogar von der Leyen durchgefallen.
Ursula von der Leyen führt Regie
Die wichtigsten EU-Kommissar*innen
Diesmal hingegen führte die deutsche CDU-Politikerin die Regie. Sie empfing die Fraktionschefs der drei großen Parteien lächelnd im Berlaymont, dem Brüsseler Kommissionsgebäude, und setzte sich hinter den Kulissen für eine „Paketlösung“ ein. Das heißt: Trotz offenkundiger Schwächen wird kein Kandidat abgelehnt, kein Posten neu verteilt. Alle Kommissare kommen im „Paket“ durch.
Einzige nennenswerte Änderung: Várhelyis Aufgabengebiet wird beschnitten. Der Vertraute des rechtslastigen ungarischen Regierungschefs Viktor Orbán soll sich nun doch nicht – wie zunächst geplant – um Reproduktionsmedizin und Pandemien kümmern. Demgegenüber soll Fitto trotz massiver Vorbehalte der Sozialdemokraten zum Vizepräsidenten der Kommission ernannt werden und die milliardenschweren EU-Regionalfonds verwalten.
Deutsche Sozialdemokraten gegen italienische Postfaschisten
Es sei ein Unding, den Kandidaten der postfaschistischen italienischen Regierungschefin Giorgia Meloni mit so viel Macht auszustatten, hieß es bei den deutschen Sozialdemokraten. Das sei „inakzeptabel“, sagte ihr Sprecher René Repasi. Doch die deutschen Genossen haben in Brüssel nicht viel zu melden; den Ausschlag gaben die spanischen Sozialisten. Um ihre Kandidatin Ribera zu retten, erklärten sie sich bereit, die „Kröte“ Fitto zu schlucken.
Zuvor hatte die mächtigste Fraktion, die konservative Europäische Volkspartei EVP, gedroht, Ribera zu blockieren. Die amtierende spanische Umweltministerin soll sich als Vizepräsidentin um die Wettbewerbspolitik und den grünen Wandel kümmern. Konservative und rechtsextreme Abgeordnete aus Spanien werfen ihr vor, im Oktober nicht rechtzeitig vor den schweren Überschwemmungen in der Region Valencia gewarnt zu haben.
„Taktische Machtspielchen“
Das „Go“ für die Kommission wird durch einen „pro-europäischen Pakt“ ergänzt. Darin verpflichten sich die Anhänger von der Leyens, in den nächsten fünf Jahren nicht mit rechtsradikalen Parteien im Parlament zu paktieren. Allerdings hat die EVP dieses Gebot bereits gebrochen. Die Vereinbarung verpflichte die Konservativen zu nichts, hieß es bei den Grünen. Der deutsche Abgeordnete Michael Bloss sprach von „taktischen Machtspielchen“.
Die neue EU-Kommission soll am 1. Dezember ihre Arbeit aufnehmen. Zuvor muss sie allerdings noch ein Votum im Plenum des Parlaments überstehen, das am kommenden Mittwoch in Straßburg geplant ist. Angesichts des Gezerres bis zur letzten Minute könnte die Abstimmung noch einmal spannend werden. Einige SPD-Politiker und Grüne wollen mit „Nein“ stimmen. Es drohe eine „Normalisierung der extremen Rechten“, warnt die Co-Vorsitzende Terry Reintke.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Anschlag auf Magdeburger Weihnachtsmarkt
Vieles deutet auf radikal-islamfeindlichen Hintergrund hin
Keine Konsequenzen für Rechtsbruch
Vor dem Gesetz sind Vermieter gleicher
Wahlprogramm von CDU und CSU
Der Zeitgeist als Wählerklient
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“