Einfach mal gar nichts sagen: Sei doch mal still
Schweigen war für unsere Autorin lange bedrückend. Dann lud ein indischer Zahnarzt sie zum Meditieren ein. Über Stille in Zeiten der Ruhelosigkeit.
A n manchen Tagen stelle ich mich abends auf den Teppich im Wohnzimmer, dehne meinen Körper, atme tief durch und lasse mich auf das runde schwarze Kissen nieder. Da sitze ich dann und schweige, zwanzig Minuten, manchmal länger. Endlich, am Ende des Tages, möchte ich aus dem Hamsterrad aussteigen, ruhig werden und mich sammeln. Allerdings meldet sich sofort der Alltag zu Wort. Satzfetzen von vergangenen Gesprächen und Diskussionen klingen in meinen Ohren nach. Szenen und Bilder schwirren mir durch den Kopf. Und Gedanken an morgen, was ich da machen sollte, geben ein kurzes Stelldichein.
Aber ich sitze, schweige und achte möglichst nur auf den Atem in meinem Bauch. Allmählich scheint das Durcheinander tiefer zu sinken. Schweigend kann ich mich mit freundlichem Abstand betrachten. Vieles, was mich beschäftigt, sehe ich dann wie auf einer inneren Bühne, auf der viel los ist, aber wo ich im Schweigen nicht mehr mitspielen muss und den Vorhang ohne Verlust mal zuziehen kann. Aufatmen. Ausatmen. Schweigen.
Mit diesem Bedürfnis nach innerer Ruhe bin ich nicht allein. In Buchläden und im Netz findet man zahlreiche Ratgeber zu Achtsamkeit und Stille. Sie versprechen mit einfachen Übungen Entschleunigung im Alltag, Kraft und Momente von innerem Frieden in einer Welt, die zunehmend hektisch und chaotisch ist. Hilfe gibt es auch auf dem Handy: So startete der Brite Andy Puddicombe vor zehn Jahren die Meditations-App „Headspace“, nachdem er einige Jahre in einem buddhistischen Kloster gelebt hatte. Seitdem wurde „Headspace“ millionenfach heruntergeladen, allein im zweiten Quartal dieses Jahres 1,5 Millionen Mal.
Noch erfolgreicher ist die App „Calm“. Über 100 Millionen Menschen haben sie auf ihrem Handy. „Calm“ wird mittlerweile mit 2 Milliarden Dollar bewertet. Das bedeutet, dass auch für die Zukunft sehr hohe Gewinne durch diese App erwartet werden. Allerdings wird in den Meditations-Apps kaum geschwiegen. Stattdessen hört man sanfte Stimmen, die beruhigen sollen und genaue Anleitungen geben, was zu tun oder zu lassen ist, um zu entspannen oder zu meditieren.
Aber solche gut gemeinten Anleitungen will ich nicht. Ich möchte einfach schweigen und übe das in der stillen Meditation. Ich finde, nur in der Stille kann ein Schweigen entstehen, das beruhigt, aufrichtet und dann auch im Alltag wirksam wird.
Es hat viele Jahre gedauert, bis ich dieses wohltuende Schweigen fand. Während ich schweige, wird mir oft erst klar, was mir im Grunde wichtig ist und wie ich es mitteilen will. Mein Weg zum Schweigen war holprig. Von meiner persönlichen, holprigen Reise zum Schweigen handelt diese Geschichte. Und auch davon, was Schweigen eigentlich für eine Gesellschaft und für unsere Kommunikation bedeutet.
Beim Schweigen kommt es immer auf den Kontext an. Schweigen ist eine besondere Art und Weise, mit der Umwelt zu kommunizieren und ist – wie ein unsichtbares Etwas, das immerzu wegflutscht – schwer zu fassen. Es hat viele Facetten, und meiner Erfahrung nach ist wohltuendes, friedvolles Schweigen oft eher die Ausnahme. Menschen schweigen häufiger aus Angst, Verzweiflung oder Scham. Ihr Schweigen ist Ausdruck von Ohnmacht. Aber auch die Mächtigen schweigen oft – weil sie sich berechnend und kalt durchsetzen können, ohne sich mit Worten erklären zu müssen.
Ich kenne das „beredte Schweigen“, aufgeladen mit Bedeutung, gerade weil nichts gesagt wird. Auch in meinem Leben waren die Erfahrungen mit Schweigen jahrelang nur beklemmend. Da war Schweigen eine beängstigende, schwer drückende Last.
Was vor den Eltern unsagbar ist
Mein Vater fährt mit seinem großen Auto in den Hof vor unserem alten Haus. Er kommt, um mich abzuholen, zu seinem Haus in der Stadt. Ich bin ein Kind im Grundschulalter und lebe mit meiner Mutter auf dem Dorf bei meinen Großeltern. Vater und Mutter sprechen schon seit Jahren nicht mehr miteinander, sie haben nur noch über Rechtsanwälte Kontakt.
Wenn mein Vater mit dem Auto kommt, muss ich die Haustür aufmachen, einige Schritte hinaus- und auf ihn zugehen, ihm einen spitzen Kuss auf die Lippen geben und „Guten Tag, Vater“ sagen. In sein Auto will ich nicht einsteigen. Aber das darf ich auf keinen Fall äußern, das widerspräche den ungeschriebenen Regeln, die hier herrschen. Ich könnte meinen Vater wütend machen und vor seinen unkontrollierten Wutausbrüchen habe ich Angst.
Ich sitze auf dem Beifahrersitz und spüre, dass er erwartet, dass ich mich mit ihm unterhalte. Aber was könnte ich berichten, was seine Zustimmung findet, was interessant für ihn wäre und unverfänglich für mich? Mir fällt nichts ein. Ich bleibe stumm.
Manchmal klagt mein Vater über sein Schicksal als verlassener Ehemann und Vater. „Bei Nacht und Nebel“ habe meine Mutter mich „entführt“ und er müsse nun ohne sein Kind leben. Es wäre doch viel besser für mich, wenn ich bei ihm in seinem modernen Haus leben und eine gute Schule besuchen könnte. Ich erstarre, wenn ich ihn so sprechen höre. Mein Vater ist für mich wie ein gebieterischer Fremder, der ungefragt wieder und wieder in mein Leben einbricht. Keinesfalls möchte ich bei ihm wohnen, auch nicht in einer Stadt zur Schule gehen, wo ich niemanden kenne. Aber das ist unsagbar.
Ich starre auf den grauen Asphalt, der neben dem fahrenden Auto vorbeirast. Ich will nicht ankommen, wo wir hinfahren: Zu dem Haus, in dem er mit seiner Mutter wohnt und seine Arztpraxis betreibt. Hier muss ich ein Wochenende pro Monat verbringen, so hat es das Familiengericht entschieden. Ich bin ungern hier, aber ich sage das nicht. Ich bin einsilbig, sage pflichtschuldig, was von mir erwartet wird, wenn man mich etwas fragt. Zwei Tage lang bin ich, das Kind, das eigentlich gerne hüpft, trällert und mit seiner Katze spielt, wie unter einer Maske, misstrauisch, ängstlich und stumm.
Mit meiner Mutter hatte ich hin und wieder Streit – wann ich abends zu Hause sein sollte, ob ich vorlaut und frech zu ihr war. Die Anlässe erscheinen mir heute banal und ich habe die meisten ganz und gar vergessen.
Nicht vergessen habe ich hingegen das lähmende Schweigen, das plötzliche mitten in unsere kleinen Wortgefechte einbrach. Mutter bekommt einen hochroten Kopf, wirft einen gekränkten Blick in meine Richtung und presst ihre Lippen zusammen. Ab sofort kein Wort mehr zu mir – nun bin ich wie Luft für sie. Erschreckt schaue ich hoch: Bin ich wirklich so böse zu ihr? So unerträglich? Enttäuscht zieht Mutter sich zurück und macht sich unerreichbar.
Panik steigt in mir hoch: Was mache ich, wenn meine Mutter nie mehr mit mir spricht? Ich habe doch nur sie, die mich mal an die Hand nimmt, die mich versorgt, bei der ich – wenn auch nur kurz – auf dem Schoß sitzen darf. Angstvoll fange ich an, sie zu beschatten: Wie blickt sie? Wie bewegt sie sich? Sie geht aus dem Haus – wohin? Kommt sie wieder? Wenn ich ganz alleine bleibe, muss ich dann zu meinem Vater?
Abends, im Bett, soll ich mich bei ihr entschuldigen. Das ist die Voraussetzung dafür, dass sie ihr Schweigen bricht. Allmählich weicht die Hochspannung aus meinem kleinen Körper, aber lange noch bin ich unruhig und schlafe schlecht ein.
Diese Zeit liegt nun schon lange zurück. Ich bin erleichtert darüber, kein abhängiges, emotional schlecht versorgtes Kind mehr zu sein. Heute bin ich eine Frau von 64 Jahren, von Beruf Journalistin. Ich konnte studieren, bin Politikwissenschaftlerin und habe – trotz der Belastungen aus meiner Herkunftsfamilie – geheiratet und eine eigene Familie gegründet. Gute Gespräche mit meinem Mann, mit den mittlerweile erwachsenen Kindern, mit Freund:innen und in Gruppen sind mir wichtig. Ich erlebe sie als beglückend und als Grundlage für gute Beziehungen.
Nicht klagen, sondern schweigen
Meine Angst und Abneigung vor dem Schweigen, die sich in Kindheit und Jugend aufgebaut hatte, bekam erste Risse, als ich mit 30 Jahren für mehrere Monate in Indien war. Ein Land, in dem die Menschen viel sprechen und sich gerne angeregt unterhalten. Aber sie kennen eben auch Schweigen, vor allem aus spirituellen Gründen.
Ich bin in Himachal Pradesh, dem nördlichen indischen Bundesstaat in den Bergen. Da schwillt meine rechte Backe an, es pocht und klopft im Unterkiefer. Der Zahnarzt, den ich in der abgelegenen Gegend ausfindig mache, hält mir ein kleines Röntgenbild vor die Nase. Unscharf zeigt es einen Zahn, der verquer im Unterkiefer sitzt. Es ist eine schlechte Aufnahme von meinem Weisheitszahn. „Es tut mir leid, aber ich kann Ihnen nicht helfen“, sagt der Zahnarzt und lächelt milde.
„Ist die Tour in den Himalaja zu gefährlich mit einer Entzündung im Kiefer?“, frage ich. Er habe keinen besseren Röntgenapparat, entschuldigt sich der Zahnarzt, eine genaue Diagnose wäre ihm nicht möglich und operieren könne er sowieso nicht. „Aber möchten Sie vielleicht mitkommen zum Meditieren?“ Verblüfft schaue ich ihn an. „Immer in der Mittagspause fahre ich zu einer Höhle hier in den Bergen und meditiere. Es dauert nur eine halbe Stunde. Kommen Sie gerne mit, es kann beruhigen und erfrischen.“
Mittags um ein Uhr sitze ich also neben ihm auf dem Boden, in einer schattigen Höhle auf kühlen Steinen. Von einem steilen Berg blicke ich in eine Landschaft, die sich im Sonnenlicht ausbreitet bis zum Horizont. Wir schweigen. Mit meiner Zunge fahre ich wieder und wieder zum Zahnfleisch und taste die Schwellung ab. Die Zunge vergrößert, was sie tastet, vielleicht ist es doch nicht so schlimm, beruhige ich mich. Bald schon habe ich mehr Schmerzen im Hintern als im Kiefer, die spitzen Steine drücken ins Gesäß. Aber ich klage nicht, ich schweige.
Nach einer halben Stunde steht der Arzt auf, klopft sich den Staub von der Hose. „Warum machen Sie diese Meditation?“, frage ich. „Für mein Karma“, sagt er. Aha, als gläubiger Hindu ist für ihn Meditation ein Gebet und er sammelt damit gute Taten für sein nächstes Leben, denke ich, vielleicht bekommt er dann endlich ein gutes Röntgengerät. Das stille Sitzen in der Höhle hat mir gut getan, mich ruhiger werden lassen, vielleicht auch geduldiger. Ich spüre Sympathie für diesen Arzt, der mir mit seinen bescheidenen Möglichkeiten helfen will. Wir fahren zurück zu seine Praxis. Er bedankt sich fürs Zusammensein, ich bedanke mich für die Einladung zur Meditation. Kein Wort mehr über Zahnprobleme.
So komme ich zum ersten Mal in Berührung mit wohltuendem Schweigen. Weit weg von Deutschland, weit weg von der Sicherheit, die eine gute medizinische Versorgung mir bislang gegeben hat. Mit Meditation habe ich mich nie zuvor beschäftigt. Welchen Sinn sollte es haben, sich hinzusetzen und zu schweigen? Als junge Frau in der linken, alternativen und feministischen Bewegung weiß ich doch, was zählt: Worte und Taten, möglichst überzeugende Worte und möglichst kämpferische Taten.
Fritz Betz, Psychotherapeut und Soziologe
Aber im fremden Land bin ich wie ein unbeschriebenes Blatt und habe vielleicht auch genau deshalb mehr Freiheit. Wenn ich sitze und schweige, muss ich mich niemandem erklären, mich nicht rechtfertigen wegen mangelndem Engagement. Ich bin erstaunt über mich selbst. Tatsächlich tut es mir gut, eine Weile auf Worte und Taten zu verzichten. Es lockt mich, ruhig zu werden und darauf zu warten, was in Körper und Geist geschieht. Immer wieder gehe ich in einen Tempel oder in eine Moschee, lausche dem Gemurmel und den Klängen dort, setze mich auf den Boden und schweige. So wie andere Menschen um mich herum auch. Wie selbstverständlich.
Raum für Veränderung
Die Österreicher Fritz Betz und René Reichel haben im Jahr 2021 das Buch „Schweigen macht Sinn“ veröffentlicht. Darin betrachten und analysieren die Therapeuten besonders das Schweigen in der Psychotherapie. Und die Autoren spannen den Bogen noch weiter: Von der Bedeutung von Sprechpausen bis hin zur Betrachtung von Verschwiegenheit. Dieses Buch ist deshalb auch eine Lektüre über den Sinn des Schweigens im Kontakt zwischen Menschen. Schweigen ist danach keinesfalls nur eine Leerstelle, die das Reden begrenzt, sondern eine Möglichkeit zu starkem, auch leiblichen Ausdruck.
„Für mich ist Schweigen nicht nur ein Wort oder ein Satz. Schweigen ist eine ganze Erzählung“, sagt Fritz Betz im Videogespräch. Es könne entschleunigen, um in einem Zeitmodus anzukommen, in dem Begegnung erst möglich werde. „Besonders wertvoll ist das einvernehmliche Schweigen. Der Patient fühlt sich darin geschützt, sicher und verstanden.“ Längere Sprechpausen könnten „Raum für Veränderungsprozesse öffnen“, man könne sich darin „selbst spüren, reflektieren und etwas seelisch verdauen“.
Damals in Indien, war es vermutlich auch das, was ich brauchte: einen Raum für Veränderungsprozesse. In einem mir unbekannten Land, allein auf mich gestellt, musste ich mich neu orientieren. Ich suchte damals auch Beruhigung und Klarheit, wie ich mich in einem Konflikt, bei dem es keine gute Lösung gab, entscheiden sollte.
Die Tour in den Himalaja brach ich schließlich ab, rumpelte einen Tag lang mit einem Bus zurück nach Delhi und ließ mir dort bei einem Zahnarzt, der mir versicherte, in Großbritannien seine Ausbildung absolviert zu haben, den vereiterten, eingeklemmten Weisheitszahn herausoperieren. Es gab eine Komplikation, eine Verletzung an einem Ast des Trigeminus-Nervs. Seitdem erinnert mich eine taube Stelle an der rechten Unterlippe an diese Zeit.
Drei autobiografische Erzählungen zum Thema Schweigen legte im Herbst vergangenen Jahres der Schriftsteller Friedrich Christian Delius vor, der dieses Jahr im Mai verstarb. Der Titel des Buches: Die sieben Sprachen des Schweigens. Delius, der in den 1970er Jahren mit seinem Text „Unsere Siemens-Welt“ die Nazi-Verstrickungen des Unternehmens zum Thema machte und dafür verklagt wurde, der der RAF eine Roman-Trilogie widmete, der den Kapitalismus kritisierte und vor drei Jahren das Essay „Wenn die Chinesen Rügen kaufen, dann denkt an mich“ veröffentlichte – dieser Delius widmet ein Buch dem Schweigen. Das überraschte mich und machte mich neugierig.
In der Mitte des Bandes, in der titelgebenden Erzählung „Die sieben Sprachen des Schweigens“, überlegt Delius, ob „Schweigen auch eine Art Sprache sein kann, vielleicht sogar der Ausgangspunkt und Angelpunkt aller Sprachen.“ Er erzählt, dass er als Fünfjähriger zum Stotterer wurde. Sein spät aus Kriegsgefangenschaft heimkehrender, nicht körperlich, jedoch seelisch verwundeter Vater bricht in das Leben des Jungen und seine innige Beziehung zur Mutter ein. Das geschieht mit doppelt angsteinflößender Macht als Patriarch und Pastor in einer hessischen Provinzstadt.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Weil ihm das Stottern so beschämend und peinlich ist, wird Delius zum schweigsamen Jugendlichen, der quälend nach Worten suchen muss, die sich aussprechen lassen, zum Mann, der lieber schreibt als spricht. Später dann zum Schriftsteller, der die fertige, schablonenhafte Sprache der Mächtigen und Marketingexperten mit den Mitteln der Literatur seziert.
Nach F. C. Delius gibt es das Schweigen aus Angst – vor Autoritäten, vor Urteilen – das Schweigen aus Dummheit, Unwissenheit, das Schweigen aus Schüchternheit und Respekt, das Schweigen aus Verlegenheit und Unentschiedenheit, aber auch das Schweigen aus Überlegenheit, wenn man meint, es besser zu wissen und schlauer zu sein. Das Schweigen aus Faulheit, auch Denkfaulheit. Das Schweigen aus Macht – für den strategischen Vorteil, um andere zu irritieren, um Mitleid und Interesse zu provozieren.
Aber es gebe eben auch das Schweigen der Mönche und das Schweigen der Verbrecher, das Schweigen der Verzweifelten, das Schweigen über eine Schuld oder Mitschuld, die notwendige Verschwiegenheit und das Schweigen der Liebenden.
Wir begegnen uns im Schweigen
Ein liebevolles, akzeptierendes und gewährendes Schweigen übt man in der Meditation. Seit knapp zwanzig Jahren meditiere ich regelmäßig montagabends in einer Gruppe. Hier übe ich, aus der Zerstreutheit in die Sammlung zu gelangen. Ruhig atmend komme ich in freundlichem Kontakt mit mir selbst und der Welt. Es kann sein, dass sich dabei Überraschendes auftut, das klärend und befreiend wirkt.
Nach dem Tod des Gründers und langjährigen Leiters vor sechs Jahren leiten zwei Männer und drei Frauen abwechselnd unsere eineinhalbstündige Meditation. Ich bin eine von ihnen. Das Ritual ist schlicht. Nach den ersten fünf Minuten in Stille berichtet jede:r kurz, wie es in Familie, Beruf oder mit der Gesundheit geht, was man erlebt hat, was Sorgen macht, was Lebensfreude schenkt oder Hoffnung macht. Die anderen hören aufmerksam und schweigend zu. Nach einigen Übungen, um Körper und Atem zu spüren, spricht die Leiter:in Impulsworte zur Einstimmung und schlägt dreimal die Klangschale. Damit ist die Meditation eingeläutet.
Meistens kommen acht bis zehn Personen. Wir sitzen im großen Kreis auf Kissen, Meditationsbänkchen oder Stühlen, versammeln uns um das Licht einer weißen Kerze, die in der Mitte in einer braunen Keramikschale brennt. Zwanzig Minuten oder etwas länger schweigen wir gemeinsam. Ertönt wieder die Klangschale, stehen wir auf, gehen zwei Runden im Kreis, hintereinander, schweigend. Das tut dem Kreislauf und den Beinen gut und übt ein, auch in Bewegung innerlich gesammelt zu sein. Noch einmal setzen wir uns, der Gong der Klangschale ertönt, wir sitzen weitere zwanzig Minuten schweigend. Zum letzten Mal an diesem Abend hören wir die Klangschale, stehen auf. Die Anleiter:in verabschiedet sich mit guten Wünschen, reihum schauen wir uns an, die Blicke begegnen sich, lächelnd, im Schweigen.
Die 15 Frauen und Männer, die zur Gruppe gehören, sprechen nicht darüber, was während der Stille in ihnen geschieht. Niemand möchte die inneren Prozesse, die ohne Worte möglich sind, zerreden. Die kleinen Mitteilungen zu Beginn des Abends und manchmal auch ein freundschaftliches Gespräch im Anschluss, draußen außerhalb des Meditationsraums, reichen meistens, um in Kontakt zu bleiben.
Weil ich für diesen Artikel über Schweigen recherchiere, frage ich ein Mitglied der Gruppe dennoch, ob er darüber reden würde, was er in der Stille erlebt. „Ich habe das Bedürfnis, einen Kontrapunkt zu setzen zu meinem sonstigen Leben, zum Handeln, auch zum Handeln-Müssen nach außen“, sagt der 62-Jährige, der als Kinderarzt arbeitet. „Aber es ist jedes Mal unterschiedlich. Da gibt es Zeiten, in denen ich alles um mich herum abstellen kann, ich wie versunken bin. Ich habe dann das Gefühl, wie umhüllt zu sein, auch verbunden zu sein mit der geistigen Welt.“
Schweigen ist viel mehr, als nicht zu wissen, was man sagen soll. Es ist eine jahrhundertalte spirituelle Praxis. Sie erlebt eine Renaissance im Westen, seit viele Menschen der kaum mehr verständlichen Worte und liturgischen Rituale überdrüssig sind, die in Gottesdiensten oder anderen spirituellen Feiern gemacht werden. In meiner Gruppe sind einige christlich geprägt, andere stehen dem Zen-Buddhismus nahe und wieder andere wollen sich, gerade wenn es um Meditation geht, nicht festlegen.
„Es gibt auch Tage, da bin ich voller Unruhe und die Gedanken toben in mir“, spricht der Arzt über seine Erfahrungen während des Meditierens. „Die Meditation ist ein guter Spiegel, wie ich innerlich aufgestellt bin.“ Er betont, dass das Schweigen für ihn immer ein Gewinn sei, auch wenn er innerlich nicht ruhig werden könne. „Ich habe geübt, ich habe den Weg gemacht, auch das ist bereits wertvoll.“ Nicht nur von ihm, sondern von vielen Menschen, auch von meiner Tochter und meinem Sohn, die beide noch in Ausbildung sind, höre ich immer wieder, dass sie zu viel machen und reden müssen, dass ihr Leben hektisch sei und sie mehr Ruhe wollten.
In der modernen Welt sollen wir nicht ruhig werden
Aber warum schweigen wir dann nicht einfach mehr? Was macht es uns so schwer, sich eine Weile still hinzusetzen und den Mund zu halten? Ich versuche, mich dieser Frage von der anderen Seite zu nähern. Wie lassen sich die Unruhe und die Hektik, der Lärm und das Getöse in unserer Gesellschaft erklären?
Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen forscht und lehrt an der Universität Tübingen zur Kommunikation mit Empörung, Skandalen und überhitzten Debatten. Im Jahr 2018 veröffentlichte er das Buch „Die große Gereiztheit: Wege aus der kollektiven Erregung“, in dem er den Begriff der „reizbaren Gesellschaft“ prägte. Während meiner Ausbildung zur Journalistin studierte ich auch einige Semester Kommunikationswissenschaft.
In einem taz-Interview im März 2020 sagte Pörksen: „Wir, die Bewohner einer privilegierten Welt, sind in eine Atmosphäre der totalen Gleichzeitigkeit eingetreten, sehen alles, leiden unter einer Überdosis Weltgeschehen, schwanken zwischen Erregungserschöpfung, Panikschüben, Mitgefühl, Ignoranz-Sehnsucht. Dieses Gefühl der Überforderung ist das Stimmungsschicksal vernetzter Gesellschaften, die einen klug dosierten Umgang mit ihren Affekten noch nicht beherrschen.“
Nach Pörksen sind die Gefühle, die über die Medien transportiert werden, eine emotionale Überforderung für den Einzelnen und die gesamte Gesellschaft. Er vertritt die Auffassung, es gebe eine eigene Emotions- und Erregungsindustrie, die nichts anderes mache, als permanent auf den viralen Hype zu zielen, auf den Aufmerksamkeitsexzess und -erfolg. Er analysiert die ökonomischen und technischen Strukturen und konstatiert eine „Vermachtung“ und „Refeudalisierung des kommunikativen Raumes.“ Die Kommunikationsströme von Milliarden von Menschen seien reguliert von wenigen „Digitalgiganten, die eines definitiv nicht wollen: das Schweigen, die Stille, die Nichtkommunikation, sondern die Überhitzung der Kommunikation, um Menschen weiter auf ihren Plattformen zu halten“.
Das heißt, wir sollen nicht ruhig werden. Wir sollen nicht schweigen, sondern uns aufregen und bei möglichst vielen Debatten mitmischen. Als Menschen sind wir soziale Wesen, die gesehen, gehört und beachtet werden wollen. Die sozialen Medien scheinen dafür wie geschaffen. Mit Bild, eigenem Wort und Ton kann man damit Reichweiten erzielen, von denen man früher nicht zu träumen wagte. Gut möglich, dass dabei auch narzisstische Wünsche nach persönlicher Bedeutung genährt werden. Es entsteht die Illusion, man sei deshalb wichtig, weil man spricht, schreibt, postet und Reaktionen provoziert.
Wenn ich still sitze, meditiere und das Schweigen übe, erbringe ich hingegen nichts, was in dieser Logik als Leistung anerkannt wäre. Ich brauche keine spezielle Kleidung oder Ausrüstung und steigere nicht das Bruttosozialprodukt. Wenn ich schweige, pflege ich nicht meine Netzwerke und verpasse vermutlich spannende Ereignisse oder Nachrichten. Ruhiges, friedvolles Schweigen erscheint als Anachronismus in Zeiten der Ökonomisierung fast aller Lebensbereiche und ist unzweckmäßig in einer globalisierten Welt, in der man sich als vereinzelter Leistungserbringer gegen eine weltweite Konkurrenz behaupten muss.
Aber: Schweigen muss man sich heutzutage auch leisten können. Man braucht dafür das knappe Gut Zeit – und so viel Geld, dass man in dieser Zeit keine Lohnarbeit leisten muss.
Schweigen muss nicht passiv sein
Noch immer wird Schweigen oft mit Passivität verwechselt. Ich stimme dem Schriftsteller Friedrich Christian Delius zu, dass es ein Schweigen aus Faulheit, aus Denkfaulheit und Bequemlichkeit gibt. Aber bewusstes, friedvolles Schweigen ist eine aktive Handlung. Für mich war es der Weg, Vater und Mutter zu verzeihen. Lange Zeit hatte ich als erwachsene Frau auf Zeichen von Bedauern oder Einsicht ihrerseits gewartet. Vergeblich. Auf Fragen antworteten sie nicht oder so ausweichend, dass es erneut verletzte. Bis ich begriff: Ich bin erwachsen und ihnen schon lange entwachsen.
Verzeihen kommt von verzichten. Wenn ich die Lasten, die ich in der Vorwurfshaltung mit mir schleppe, loswerden will, muss ich verzichten: auf Vorwürfe, auf unerfüllte Wünsche, aufs Besserwissen. In einer Haltung des ruhigen, um Versöhnung bemühten Schweigens konnte ich zuerst auf die lauten, später auf die versteckten und zuletzt auch auf die stummen Vorwürfe verzichten. Ich lernte allmählich, diesen Teil meiner Geschichte zu akzeptieren, wurde verständnisvoller und bekam einen neuen Blickwinkel: Mutter und Vater konnten nicht anders handeln. Vermutlich waren sie Gefangene ihrer Zeit, ihrer Begrenzungen und der Enge, in der sie lebten.
Auf meiner langen Reise zum Schweigen war es wichtig für mich, zu unterscheiden. Selbstverständlich ist es ein wesentliches Recht, die Stimme zu erheben. So, dass man darauf aufmerksam macht, was Unrecht ist und Veränderungen anbahnen kann. Das Recht zu sprechen ist durch das Schweigen, zu dem man sich selbst entscheidet, nicht berührt. Sprechen und schweigen gehören zusammen und ergänzen sich, das ist spürbar besonders in persönlichen Beziehungen. Um in Gesprächen aufmerksam und empathisch zuhören zu können, braucht es Sprechpausen.
So entsteht der Raum, den anderen, sich selbst und das Gesagte wahrzunehmen. Selbst gewähltes Schweigen gibt die Freiheit, zu entscheiden, wann ich spreche, wann ich schweige. Lange gesucht und endlich gefunden, ist Schweigen für mich ein Gut, das ich heute sorgfältig pflege. Am liebsten so: Einatmen, ausatmen, schweigen, danach sprechen und handeln.
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