Einer von 13,8 Millionen Betroffenen: Der Armut nicht klein beigeben
Die Bewegung #Ichbinarmutsbetroffen ruft zum Sozialprotest auf. Die taz hat einen der Aktivist*innen getroffen.
Irgendwann hat Andreas Wertheim entschieden, sich von seiner Armut nicht unterkriegen zu lassen. Heute ist er Aktivist in der Bewegung #Ichbinarmutsbetroffen. Er kämpft gegen soziale Ungleichheit, hat verstanden, dass seine Situation kein persönliches Versagen ist. Es gab aber eine Zeit, da habe er sich Vorwürfe gemacht wegen seiner Armut und seiner Abhängigkeit vom Staat. „Es ist schlimm, wenn man denkt, dass man der Gesellschaft nichts zurückgeben kann“, sagt er.
Wertheim sitzt am Esstisch seiner Wohnung in der Altstadt von Brandenburg an der Havel und dreht sich eine Zigarette. Die Wände des Zimmers sind weinrot gestrichen, auf dem Fensterbrett steht eine Buddha-Statue. Die Meditation habe ihm mit der Depression geholfen, sagt er. Seit mehr als 20 Jahren ringt er mit dieser Krankheit. Inzwischen ginge es besser, doch belastende Situationen, wie es sie für Armutsbetroffene viele gebe, könnten die Krankheit wieder auslösen. „Sich zu überlegen, wie viele Pfandflaschen brauchst du noch, um was einzukaufen. Dieser Druck, das geht an die Substanz“, sagt er.
Wertheim kämpft auch mit einer chronischen Hautkrankheit. Die roten Pusteln auf seinem Gesicht sind nicht zu übersehen. Oft hat er Schmerzen, die ihn dann „wie Stromschläge“ durchzucken. Doch auch die Medikamente dagegen kosten Geld – 5 Euro Eigenanteil pro Packung. Als er kürzlich für fünf Tage ins Krankenhaus musste, kostet das 50 Euro Eigenanteil. Er muss Ratenzahlung beantragen – und wieder steigen die Schulden. „Krankheit macht arm und Armut macht krank“, sagt Wertheim frustriert.
Wertheim ist kein Einzelfall
Protest vor dem Kanzleramt Am Samstag um 13.00 Uhr ruft #Ichbinarmutsbetroffen zu einer Kundgebung vor dem Kanzleramt auf. Es soll der erste größere Protest der Bewegung werden. Angeschlossen haben sich auch das Protestbündnis Genug ist Genug und der Paritätische Wohlfahrtsverband.
Umverteilen gegen Armut In einer Petition mit inzwischen über 65.000 Unterschriften fordert die Bewegung mehr Umverteilung, etwa durch eine Erhöhung der Regelsätze auf 678 Euro. Reiche sollen stärker zur Kasse gebeten werden. Rechte und rechtsoffene Gruppierungen sollen dem Protest fernbleiben.
Statistisches Bundesamt Offiziell galten 15,8 Prozent der Bundesbürger im Jahr 2021 als armutsgefährdet – rund 13 Millionen Menschen. Als von Armut bedroht gilt, wer weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung hat. (taz)
Andreas Wertheim ist beileibe kein Einzelfall. Er ist einer von 13,8 Millionen Menschen, die laut dem letzten Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbands bundesweit von Armut betroffen sind, also weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens zur Verfügung haben. 2012 hat ein Amt Wertheim wegen seiner Depression als dauerhaft arbeitsunfähig und als zu 50 Grad schwerbehindert eingestuft. Da war er gerade 38 Jahre alt, seither bezieht er Erwerbsminderungsrente, welche das Sozialamt auf den Regelsatz der Grundsicherung aufstockt.
Von Grundsicherung zu leben, das bedeutet, jeden Monat mit 449 Euro auszukommen. Das sind täglich etwa 5 Euro für Essen und nicht mehr als 17 Euro monatlich für Gesundheit. Für Bildung sieht die amtliche Bemessung des Regelsatzes für einen ganzen Monat gerade einmal 1,62 Euro vor. „Ein Hohn“, findet Wertheim.
Nächstes Jahr, wenn Hartz IV Bürgergeld heißen soll, wird der Regelsatz auf 502 Euro erhöht. Auch das wird die enormen Preissteigerungen, mit denen in Zeiten von Inflation und Energiekrise längst nicht nur armutsbetroffene Menschen konfrontiert sind, aber kaum ausgleichen können. „Auch vor Corona war nicht alles einfach, aber es ging schon irgendwie“, sagt Wertheim. „Ich esse inzwischen fast nur noch Nudeln mit Tomatensoße oder eine Dose Erbsensuppe.“ Früher hätte er sich auch mal einen Kuchen backen können, das sei immer ein „kleines Highlight für die Seele“ gewesen. Sich das nicht mehr leisten zu können, das schmerzt ihn.
Schon länger will Wertheim seine Situation nicht mehr einfach hinnehmen. Privat beginnt er an einer Petition zu schreiben, welche die Situation von Menschen mit Erwerbsminderungsrende anklagen soll. Bei der Recherche stößt er dann auf den Twitter-Hashtag #Ichbinarmutsbetroffen. Seit Mai diesen Jahres teilen Menschen dort ihre Armutserfahrungen. Sie berichten von Existenzängsten, Überlebensstrategien und klagen eine Berichterstattung an, die Armut als individuelles Versagen darstellt. Also habe er sich bei Twitter angemeldet. „Um mitreden zu können, zu schauen, wie ich meinen Beitrag leisten kann, damit sich was ändert“, sagt er.
Seit Mai ist aus dem Hashtag eine Bewegung geworden, mitsamt Ortsgruppen, einer Aktions- und einer Presse-AG. Möglich wurde dies durch die Unterstützung der OneWorryLess Foundation, die auf Twitter schon seit einigen Jahren Direkthilfe für Armutsbetroffene organisiert.
Unter Hashtags wie #Technikpaten oder #Bratenpaten sammelt die Stiftung Gelder, um Armutsbetroffene mit dringend benötigten Geräten oder mit Lebensmitteln am Monatsende auszustatten. Nun unterstützt sie die Bewegung, stellt Infrastruktur bereit, finanziert den Flyerdruck. Für den Protest am Samstag (siehe Kasten) organisiert sie #Ticketpaten, die Armutsbetroffenen die Anreise nach Berlin ermöglichen.
Seit Monaten stellen sich die Aktivist:innen alle zwei Wochen auf den Alexanderplatz. Dort halten sie Schilder hoch, auf denen ihre Tweets zu lesen sind. Sie wollen in Kontakt kommen, mit Menschen über Armut reden, deutlich machen, dass Armut etwas anderes bedeutet, als es zum Beispiel Reality-TV-Shows darstellen. Bisher sind Passanten eher zögerlich, dieses Gesprächsangebot anzunehmen. Auch Wertheim war schon dabei – das 9-Euro-Ticket machte die Fahrt nach Berlin möglich. „Wenn es uns gelingt, nur die Sichtweise von einer Person auf Armut zu erweitern, ist das ein Erfolg“, sagt er.
Bisher blieben diese Proteste aber überschaubar. Für die Kundgebung am kommenden Samstag um 13 Uhr mobilisiert die Bewegung nun größer, auch der Paritätische Wohlfahrtsverband und das Protestbündnis Genug ist Genug haben zur Teilnahme aufgerufen. Wie viele kommen werden? „Wenn es nach mir ginge, es sollten 13,8 Millionen sein“, sagt Wertheim.
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