Eine polnische Mutter in Berlin: Disziplin und Süßes
Als polnische Mutter in Berlin habe ich viel über die Deutschen gelernt. Vor allem über Gemeinsamkeiten jenseits der Grenzen und Mentalitäten.
D ie „polnische Mutter“ ist ein Begriff, der die traditionelle Rolle der Frau in Polen als Beschützerin ihrer Kinder beschreibt: fürsorglich, geduldig und mit ganzem Herzen bei der Sache. Der Begriff wird sogar über die Grenzen hinweg verwendet. Meine israelischen Freundinnen sagen: „Sei nicht so eine polnische Mutter“, und meinen damit: „Sei keine Helikoptermutter.“
Ich selbst bin weit davon entfernt, eine überbehütende Mutter zu sein. Ich habe mein Berufsleben nie für meine Kinder geopfert, was nicht heißt, dass ich mich nicht um sie kümmere. Es ist jetzt 12 Jahre her, dass ich meine beiden Söhne zur Welt gebracht habe. Es war sowohl eine Zeit, in der ich mich sehr intensiv um die Kinder gekümmert habe, als auch die meiner größten beruflichen Erfolge. Ob es eine „Work-Life-Balance“ gibt, bezweifle ich – aber das hält mich nicht davon ab, eine Art Gleichgewicht zu suchen. Und da es schwierig ist, alles richtig zu machen, gehen meine Kinder oft ohne Mütze oder mit offener Jacke aus dem Haus, was sie aber nicht daran hindert, glücklich zu sein.
Auch wenn ich das Klischee der „polnischen Mutter“ nicht mag, bin ich sowohl Polin als auch Mutter. Deshalb ist es für mich sehr interessant, Deutsche – deutsche Mütter – zu treffen und zu erfahren, wie sie die Rolle der Frau und die Kindererziehung verstehen. Das Nachdenken über Fragen der Kindererziehung, über Elternrollen ist ein Schlüssel dafür, zu erkennen, was uns auf beiden Seiten der Oder und Neiße verbindet und was uns trennt.
Die besten Soziologen sind Fremde, sagte der Berliner Soziologe Georg Simmel. Ständiges Reisen, die Präsenz in verschiedenen kulturellen und geografischen Ordnungen, ein Lebensstil, der durch die Anzahl der Reisen etwas nomadisch ist – all das charakterisiert den Fremden aus dem berühmten gleichnamigen Aufsatz Simmels. Wenn das der Fall ist, spiele ich schon lange eine solche Fremden-Rolle.
Karolina Wigura ist Vorstandsmitglied der Stiftung Kultura Liberalna in Polen und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Sonderforschungsbereich Affective Societies, Freie Universität Berlin. Sie hat zwei Söhne und pendelt zwischen Berlin und Warschau.
Seit 2021 lebe ich in Berlin, vorübergehend mit nur einem Sohn. Mit dem anderen lebt sein Vater in Warschau, also bauen wir beide sozusagen zwei Denkmäler der selbstständigen oder manchmal auch alleinerziehenden Elternschaft. Durch die ständigen Reisen nach Berlin und Warschau fühlen wir uns als Bürger*innen zweier Städte, und diese Erfahrungen bilden unsere Identität als Familie.
Meine erste Erfahrung, wenn es um deutsche Kinder und ihre Erziehung ging, war … Stille. Polnische Kinder, so hat man den Eindruck, sind sehr laut, und sie sind überall. In den Kindergärten werden sie ausgiebig betreut, sodass sie, wenn sie in die Schule kommen, noch nicht so weit sind, ihr eigenes Verhalten und ihre Gefühle zu regulieren. Die Erfahrung der deutschen Einschulung war für mich in dieser Hinsicht äußerst lehrreich. All die Sechsjährigen, die entschlossen ihre Rucksäcke nehmen und ins Klassenzimmer marschieren, waren ziemlich beeindruckend. Die meisten Kinder, die in Polen aufgewachsen sind – unsere Schule ist deutsch-polnisch –, hatten ein kleines Problem mit dieser Selbstständigkeit. Sie mussten sie erst noch lernen.
Schwer zu sagen, welcher dieser Ansätze besser ist. In Polen, vor allem in Großstädten und an privaten Schulen, haben wir eine Entwicklung durchgemacht, die in Deutschland gerade erst ankommt und über die Der Spiegel kürzlich ausführlich geschrieben hat. Es ist eine Verschiebung weg von der Disziplin, hin zu einer demokratischeren Erziehung. In der Praxis bedeutet das oft mehr Chaos, aber die Kinder haben mehr Freiheit.
Eltern aus Polen finden es oft schwierig, sich im Berliner Schulsystem zurechtzufinden. All die Gymnasien ab der fünften oder ab der siebten Klasse und der Lateinunterricht ab 11 Jahren, oder auch nicht – all das kann sehr undurchsichtig erscheinen. Dazu der Zweifel, ob ein Schulwechsel nach der vierten Klasse nicht zu anstrengend ist für die Kinder. Aber als Mutter habe ich auch viel Hilfe von den Schulen erfahren, an denen ich meine Kinder anmelden wollte.
ist Vorstandsmitglied der Stiftung Kultura Liberalna in Polen und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Sonderforschungsbereich Affective Societies, Freie Universität Berlin. Sie hat zwei Söhne und pendelt zwischen Berlin und Warschau.
Antiautoritäres Polen? Nun ja: Die polnische Stiftung Dajemy Dzieciom Siłę (Wir geben Kindern Macht) hat vor Kurzem eine Studie veröffentlicht, aus der hervorgeht, dass mehr als 40 Prozent der polnischen Kinder zu Hause Gewalt ausgesetzt sind und 57 Prozent Gewalt durch Gleichaltrige erfahren. Dazu kommt sexuelle Gewalt, die in Polen in Form von Skandalen nach und nach ans Licht der Öffentlichkeit kommt. Auch in Deutschland werden regelmäßig alarmierende Studien und Polizeistatistiken zu diesem Problem veröffentlicht.
Wir haben noch weitere gemeinsame Probleme auf beiden Seiten der Grenze. Depressionen und Suizide unter Kindern und Jugendlichen sind heute eine echte Zivilisationskrankheit. Ob das nun eine Auswirkung der sozialen Medien ist oder der Klimakrise oder letztendlich die verzögerte Wirkung der Pandemie – schwer zu sagen, aber es hilft, zu erkennen, dass dies in Polen und Deutschland gleichermaßen schlimm ist. So können wir Erfahrungen austauschen und uns gegenseitig helfen.
Meine zweite grundlegende Erfahrung war die Art, in der hier die Kinder angesprochen werden. Die Deutschen sind dafür bekannt, dass sie sich gegenseitig auf die Finger schauen und schonungslos kritisieren. Das passiert einer Mutter mit einem Kind oft, auch in der Öffentlichkeit, und für mich war es schwer, mich daran zu gewöhnen. Doch während mich in Polen die Passanten auf der Straße ansprechen („Bitte sagen Sie Ihrem Kind, dass es beim Fahrradfahren vorsichtig sein soll!“), ist das in Deutschland anders: Die Passanten sprechen das Kind meist direkt an – Kinder werden hier also als eigenverantwortliche Subjekte betrachtet.
Meine dritte wichtige Erfahrung war die Art, wie ich als Mutter behandelt wurde. Hier habe ich zwei Arten von Erfahrungen gemacht, und paradoxerweise sind dabei „Polentum“ und „Mutter sein“ getrennt. Einerseits sind Klischees und Vorurteile gegenüber Polen weit verbreitet, die oft aus einem völligen Mangel an Wissen resultieren. Ich begegne diesen Stereotypen oft, zum Beispiel wenn jemand, der von meiner Nationalität gerade erfahren hat, den unbändigen Drang verspürt, mir einen Witz über polnische Autodiebe zu erzählen. Auf der anderen Seite kann aber eine alleinerziehende Mutter hier auf viel menschliches Mitgefühl und Hilfe zählen. Auch wenn ich noch nicht lange genug hier bin, um zu wissen, ob dies das Ergebnis der deutschen „Willkommenskultur“ ist, die sich über Jahrzehnte entwickelt hat, oder etwas anderes – erwähnenswert ist es allemal.
Ein Vorurteil über die Deutschen dagegen stimmt: Sie mögen keinen Lärm. Dafür sind sie berüchtigt, und Kinder stören sie oft. Von allen Erfahrungen, die ich in den letzten zwei Jahren gemacht habe, war jedoch nur eine wirklich negativ. Es war eine Nachbarin, die an meine Wohnung klopfte, mich regelmäßig ermahnte, dass mein Sechsjähriger zu laut sei, und einmal, als er in Quarantäne war, drohte, deswegen die Polizei zu rufen.
Expert*innen für das menschliche Gehirn sagen, dass wir uns aus evolutionären Gründen besser an negative Erfahrungen erinnern, und sicherlich hat mich diese unangenehme Begegnung monatelang gestresst. Aber die Summe meiner positiven Erfahrungen übersteigt die negativen bei Weitem. Lasst uns also der Gerechtigkeit Genüge tun und über eine andere Nachbarin schreiben, die gerne Überraschungen macht, indem sie kleine süße Geschenke für meinen Sohn an die Klinke meiner Haustür hängt (zusammen mit Blättern, zum Beispiel: „Pass auf deine Zähne auf! Bitte iss nur eine Schokolade pro Tag“).
Oder die Frau, die mich vermeintlich auf der Straße anpöbelte, als mein Sohn hysterisch wurde. Sie fragte erst, ob ich Deutsch spreche, und sagte dann: „Tut mir leid, dass ich Sie störe, ich wollte Ihnen nur sagen, dass meine Tochter sich auch so benahm als Kind und es wirklich vorbeigehen wird, bitte halten Sie durch.“ Für jemanden, der ein sechsjähriges Kind als wichtigsten täglichen Begleiter hat, allein am Anfang seines Aufenthalts in einem fremden Land, bedeutet ein solches Zeichen von Empathie sehr viel. Die Frau blieb mir monatelang in Erinnerung.
Polen und Deutsche haben mehr gemeinsam, als man denkt – auch politisch stehen wir vor einer Reihe gleicher Probleme: Beides sind große Länder in der Mitte Europas, die viele gemeinsame Interessen und eine gemeinsame Grenze haben. Und doch sind unsere Beziehungen in der letzten Zeit eher unbefriedigend. Wir haben einen langen Prozess der Versöhnung hinter uns – und seit einem Jahr haben wir außenpolitisch das gemeinsame Ziel, der Ukraine zu helfen. Und trotzdem sah es, was unser Verhältnis angeht, lange nicht mehr so schlecht aus, und das ist nicht nur eine Frage der populistischen Propaganda der polnischen Regierung.
Es mangelt nicht nur an Wissen übereinander. Der Versöhnungsprozess zwischen beiden Ländern bestand bislang vor allem aus Treffen zwischen hochrangigen Politiker*innen, Beratungen zwischen Akademiker*innen, unterstützt durch Jugendaustausch. Doch all das reicht in unseren unsicheren Zeiten, Zeiten der sozialen Medien und des schnellen gesellschaftlichen Wandels, nicht mehr aus, um einander näherzukommen.
Wo fangen wir an, um unsere Beziehungen zu verbessern? Das ist eine Frage, die mir in letzter Zeit viele Leute gestellt haben. Vielleicht sollten wir bei den Kindern anfangen. Dadurch würden wir unsere Unterschiede besser verstehen, aber auch die Herausforderungen, die uns vereinen. Ein erster Schritt könnte die Einrichtung neuer deutsch-polnischer Kindergärten und Schulen sein, von denen es derzeit nur sehr wenige gibt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind