Eine „historische Sensation“: Gegen den Krieg gedruckt
Eine Ausstellung ehrt eine Zeitschrift, die im Ersten Weltkrieg über die Fronten hinweg erschien – und in Hamburg gedruckt wurde.
Heinrich Kaufmann war ein „genialer Organisator“, sagt Burchard Bösche. Eine der vielen unternehmerischen Leistungen des studierten Lehrers ist aus dem Stadtbild verschwunden. Dort, wo heute der Real-Supermarkt am Berliner Tor steht, stand einst ein imposantes Fabrikgebäude mit der wohl größten Druckerei in der Druckerhochburg Hamburg. Die Verlagsgesellschaft deutscher Konsumvereine war zugleich der Thinktank der starken Genossenschaftsbewegung im Kaiserreich. Diese bestand aus weit über 1.000 Unternehmen: Bäckereien, Waschmittelproduzenten, Fahrradfabriken, Lebensversicherer und Lebensmittelläden. Oft waren die Betriebe der Genossen die stärksten ihrer Branchen.
Konsumgenossenschaften sahen und sehen sich als „Vertreter der Verbraucher“, die sie mit hochwertigen und preiswerten Produkten vor den Unbilden des Kapitalismus schützen wollten. Mit Erfolg. Sie hatten – wie in der Weimarer Republik, später der jungen Bundesrepublik und der DDR – Millionen Mitglieder. Im Kaiserreich boomten sie: So explodierte der Umsatz der Verlagsgesellschaft in fünf Jahren von rund einer halben auf vier Millionen Reichsmark bis zum Kriegsbeginn.
In der Sonderausstellung „Verlagsgesellschaft der deutschen Konsumgesellschaft“ würdigt das Hamburger Genossenschaftsmuseum den Verlag, das durch alliierte Bombenangriffe 1943 zerstörte architektonische Meisterstück und den Gründer Kaufmann. „In dem Haus der Verlagsgesellschaft wurde Geschichte geschrieben“, sagte Museumsleiter Burchard Bösche. In der Ausstellung sind Originalbaupläne zu sehen, Fotos und Abdrucke.
Geschichte geschrieben wurde besonders durch die Herausgabe des Internationalen Genossenschafts-Bulletins – mitten im großen Krieg über alle Fronten hinweg. Mit Kriegsbeginn 1914 wird das Zentralorgan erst einmal eingestellt. Doch Kaufmann und seine Freunde besinnen sich auf ihren Internationalismus. Man wollte sich „nicht auseinander bringen lassen“.
Aus dem feindlichen London
Die Texte für das Bulletin kamen während des Weltkrieges aus dem verfeindeten London. Dort saß die Hauptredaktion des Internationalen Genossenschaftsbundes (IGB). Auch beim „Erzfeind“ Frankreich erschien das internationale Bulletin weiterhin. Im Hamburger Verlagshaus wurden die Texte übersetzt, von Kaufmann mit ergänzenden Fußnoten versehen, anschließend gedruckt und an 1.500 deutschsprachige Abonnenten bis nach Österreich-Ungarn versandt.
Diesem Bulletin ist es zu verdanken, so Bösche, dass die internationalen Beziehungen der Genossenschaften – anders als bei allen übrigen internationalen Organisationen – nicht gänzlich abrissen. „Und nach Kriegsende unverzüglich in vollem Umfang wieder aufgenommen werden konnten.“ Reprints der Bulletin-Jahrgänge 1915 bis 1917 hat das Genossenschaftsmuseum jetzt veröffentlicht. Eine bedeutende Quelle, um sich über die wirtschaftliche und soziale Lage Europas während des Krieges zu informieren.
Der Sozialdemokrat Kaufmann hatte in seiner Freizeit in einem Kellerlokal des Fortbildungsvereins Barmbek-Uhlenhorst wissensdurstige Arbeiter unterrichtet. Die SPD heute sollte endlich ihre „sozialdemokratischen Kaufleute“ würdigen und ihre panische Angst vor wirtschaftlicher Verantwortung ablegen, sagt Bösche. Gleiches ließe sich wohl von der Linkspartei sagen. Vor einem Jahrhundert war das anders: 1903 gründeten 600 Delegierte in Dresden den Zentralverband deutscher Konsumgenossenschaften. Kaufmann wurde Generalsekretär und Vordenker der Bewegung. Heute gehört auch die tageszeitung zu deren Mitgliedern.
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