Eine Weihnachtsgeschichte: Heiligabend in der Rettungsstelle
Wenn Pfleger und Ärztin an Heiligabend arbeiten müssen, ärgern sich Mama und Papa und lassen sich etwas einfallen.
Weihnachten, ein großes Berliner Krankenhaus, Rettungsstelle. Ich bin Ärztin. Das ist so etwas Ähnliches wie Arzt. Ich habe Spätdienst an Heiligabend, und alles ist wie immer: Meine Mutter erwägt ein Attentat auf den Oberarzt, mein Freund plant die Trennung, und beide beruhigen sich nur widerwillig, als ich ihnen sage, dass ich nun mal beim Losen verloren habe und man da wirklich nichts machen kann.
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„Hast du schon mal darüber nachgedacht, dass du die einzige in diesem Lostopf sein könntest?“, fragt meine Mutter.
„Sieh mal, Mama“, sage ich, „das wäre doch dieses Jahr ohnehin nicht aufgegangen. Maximal zehn Personen!“
„Papa hätte im Arbeitszimmer gegessen.“
„Wie bitte?“ Mein Vater hat mitgehört.
Meine Mutter seufzt. „Ich würde einfach so gerne einmal wieder mit dir Weihnachten feiern!“
„Ich doch auch“, sage ich, „vielleicht nächstes Jahr.“
„Ach, Kind“, sagt meine Mutter, bevor sie auflegt.
Es ist 15 Uhr, und die Rettungsstelle ist leer. Das ist nicht ungewöhnlich an Heiligabend, zumindest nicht für die Zeit vor dem Abendessen, denn danach kann es ganz schön voll werden – in der Regel erst bei den Internisten, wegen der Gans, und dann bei den Unfallchirurgen, wegen des Alkohols, wobei die meisten nach Versorgen der Platzwunde zum Ausnüchtern wieder bei den Internisten landen. „Als ob die Chirurgen nicht auch einmal eine Infusion anhängen könnten!“, beschwert sich mein Kollege regelmäßig bei unserem Oberarzt, aber der argumentiert wie meine Mutter. „Hätten Sie halt was Ordentliches studiert“, sagt er. Ja, hätten wir mal.
Um 17 Uhr ist die Rettungsstelle immer noch leer. Mein Kollege und ich spielen eine Runde Solitär auf dem Computer im Pflegestützpunkt. Pfleger Matthias bestellt Weihnachtsgeschenke bei Zalando.
„Bist du nicht ein bisschen spät dran?“, frage ich ihn.
„Ich sage, es lag an Corona“, antwortet er.
Dann geht die Tür.
„Hoffentlich ist es nicht für uns“, seufzt mein Kollege.
„Für Bauchschmerzen ist es zu früh, ich tippe auf etwas Chirurgisches mit Weihnachtsbaum.“
Leider landet der Schein auf dem internistischen Brett.
„Glühwein?“, frage ich.
„Nein, Vorhofflimmern“, sagt mein Kollege. „Aber sieh mal, die Patientin heißt wie du.“
„Zeig her!“ Ich greife nach dem Rettungsstellenschein, und er hat recht, die Patientin heißt wie ich. Oder vielmehr wie meine Mutter.
In diesem Moment bringt die Schwester zehn weitere Scheine. Mein Kollege liest vor: „Brustschmerzen, Schwindel, Diabetes, schau mal, die heißen alle so wie du!“
Ich stehe auf und gehe in den ersten Behandlungsraum. Dort wartet meine Mutter.
„Mama!“, sage ich entsetzt, „was machst du denn hier?“
„Ist Papa schon da?“, flüstert sie.
„Ist der auch krank?“
„Ich bin doch nicht krank!“
Gute Ideen
„Aber hier steht Vorhofflimmern.“
„Ich weiß nicht mal, was das ist. Hat Papa gegoogelt. Er hat eine Bauchwandhernie, und dein Bruder einen Herzinfarkt.“
„Wie bitte?“
„Mensch, jetzt sei doch nicht so fantasielos, wir kommen, um mit dir Weihnachten zu feiern! Hier wird die Regel mit den zehn Personen ja wohl nicht gelten, oder?“
„Natürlich nicht, aber das könnt ihr doch nicht machen!“
„Wieso nicht? Die Schwester an der Anmeldung hielt das für eine gute Idee. Sie ruft gerade ihre Familie an.“
„Du hast das Schwester Susanne erzählt?“
„Wie gesagt, sie war begeistert, und ihr Mann bringt Nachtisch mit. Ich habe eine Gans dabei und Papa die Gitarre. Deine Schwester hat sogar versprochen, ihn auf der Geige zu begleiten, und du weißt, wie sie sich sonst immer ziert.“ Meine Mutter ist bester Laune. „Kann ich die Soße irgendwo warmstellen? Ich habe extra ein bisschen mehr gekocht.“
Ich gebe auf und suche Pfleger Matthias. Der wirkt ertappt, als ich ihn im Stützpunkt antreffe. Er misst gerade einem älteren Mann, der ihm sehr ähnlich sieht, den Blutdruck.
„Das ist mein Vater“, sagt er, „er hat...“
„Herzinfarkt oder Bauchwandhernie?“, frage ich.
„Nierenstein“, sagt der Mann stolz, „mein Neffe macht Bauchwandhernie.“
„Na, da kann er ja neben meinem Mann sitzen“, sagt meine Mutter. Sie ist mir gefolgt.
„Mama“, sage ich, „du kannst doch nicht einfach...“
Der Oberarzt kommt ins Zimmer. „Was ist denn hier los?“
„Sie sind also dieser Oberarzt?“, sagt meine Mutter und mustert ihn von oben bis unten.
„Wer ist das?“, fragt er.
Windpocken – ein Segen
„Das ist meine Mutter“, sage ich betreten.
„Was macht sie hier?“
„Weihnachten feiern! Wenn unsere Tochter schon immer arbeiten muss … Und außerdem ist hier mehr los. Maximal zehn Personen! Wie soll denn das gehen?“
„Das weiß ich auch nicht“, sagt der Oberarzt.
„Ihre Mutter hat eine Blinddarmentzündung“, sagt Schwester Susanne, die gerade den Raum betritt.
„Meine Mutter hat doch Vorhofflimmern“, sage ich.
„Nicht Ihre Mutter, seine“, sagt sie und deutet auf den Oberarzt.
Der wird rot.
„Na bitte, Sie hatten also dieselbe Idee?“ Meine Mutter freut sich. „Dann können wir ja gemeinsam essen!“
Ich blicke zum Oberarzt. Der blickt zu seiner Mutter. „Jetzt sei nicht so ein Stoffel“, sagt die, „ich habe Gulasch mitgebracht.“ Sie tätschelt ihrem Sohn die Wangen. „Das wünscht sich mein Bubi immer zu Weihnachten“, sagt sie. Mein Kollege und ich grinsen uns an, und der Oberarzt wird tatsächlich schon wieder rot.
„Deine Frau kommt auch gleich“, sagt seine Mutter, „die Kinder haben Windpocken.“
Als ich aus dem Fenster sehe, hat sich eine lange Schlange vor der Tür gebildet, und in den nächsten Minuten füllt sich die Rettungsstelle mit den Familienmitgliedern des Oberarztes, die offenbar Infektionskrankheiten gegoogelt haben: Scharlach, Masern, Mumps, Röteln – nicht alle haben ihre Hausaufgaben gemacht: „Pocken sind doch ausgestorben!“, rügt der Oberarzt seinen ältesten Sohn. Der wechselt souverän zu Akne – „ein Opportunist, ganz wie der Vater“, raunt mir mein Kollege ins Ohr, doch der Junge zögert nicht lange und baut mit dem Pflegepersonal aus den Patientenliegen eine lange Tafel. Weiße Laken gibt es im Überfluss, und an Kerzen hat selbstverständlich meine Mutter gedacht.
Wenig später treffen die Kinder von Schwester Susanne ein, alle mit angeborenen Gerinnungsstörungen, und die Familie des Transportdienstes, die sich auf chronisch entzündliche Darmerkrankungen spezialisiert hat. Die Angehörigen des Laborpersonals haben wenig überraschend durchweg Corona und die des Sicherheitsdienstes komplizierte Schussverletzungen, die zum Teil intensivmedizinisch versorgt werden müssen. Nachdem alle ihre Krankenkassenkarte eingelesen haben, beginnt das Fest. Die Gans meiner Mutter reicht für die halbe Rettungsstelle und das Gulasch der Mutter des Oberarztes für die restliche Klinik. Die beiden Frauen verbrüdern sich. Mein Vater tanzt mit Schwester Susanne, ich tanze mit dem Oberarzt. „Wär der nicht was?“, flüstert mir meine Mutter zu, und nach dem dritten Glas Wein frage ich mich das auch. Da torkelt ein Mann um die Ecke.
„Du hast Onkel Theo eingeladen?“, frage ich meine Mutter.
„Natürlich, das ist doch ideal! Er kann trinken, so viel er will, und wir können in Ruhe feiern, ohne dass ihn einer extra in die Rettungsstelle bringen muss, wenn er stürzt.“
Der Plan geht auf. Es gibt Glühwein in Massen, und Onkel Theo wird alle halbe Stunde durchs CT gefahren. „Keine intrakranielle Blutung“, schreibt der Radiologe ein ums andere Mal, bis meine Mutter die Idee hat, ihn in Ruhe stürzen zu lassen und am Ende der Nacht einfach ein Sammel-CT zu machen. Der Oberarzt ist beeindruckt, der Radiologe erleichtert, und Onkel Theo hat wie immer Glück, denn auch dieses CT ist unauffällig. Ich lege ihm zum Ausnüchtern eine Infusion und lasse den Unfallchirurgen die Platzwunde versorgen. „Kannst du das nicht einmal selber machen?“, sagt der, bevor er sich bei seinem Oberarzt beschwert.
Dann gehen wir nach Hause. Es ist weit nach Mitternacht, und alle sind sich einig: Das machen wir nächstes Jahr wieder so.
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