Eine Kulturgeschichte des Drachens: Beschützer und Bestie
In China beginnt an diesem Wochenende das Jahr des Drachens. Über einen mythologischen Allrounder.
Auf den ersten Blick ist der Drache so was wie der Royal unter den zwölf Tierkreiszeichen. Bisschen besser als das gemeine Volk, bisschen überinszeniert, bisschen aus der Zeit gefallen. Und unverhältnismäßig stark verehrt für die Tatsache, dass er selbst nicht wirklich was für seinen Status leistet.
Weltweit hat es der Drache längst auf bedruckte T-Shirts, tätowierte Oberarme und einfallslose Titelseiten von Nachrichtenmagazinen geschafft – und in China gehen Anbetung und Aberglaube sogar so weit, dass in Jahren, die im Zeichen des Drachen stehen, regelmäßig ein Babyboom verzeichnet wird. Wer will schon Schaf oder Ratte zum Kind, wenn es auch das kaiserliche Wappentier sein kann?
Der Drache ist ein mythologischer Allrounder. Er taucht in zahlreichen Sagen, religiösen Schriften und popkulturellen Verarbeitungen auf, mit teils wesentlichen regionalen Unterschieden. Unter mittelalterlichen Umständen wird er zum grausigen Antagonisten eines menschlichen Helden, den es auf dem Weg zur Jungfrauenrettung zu töten gilt (Kategorie Mann mit Selbstwertproblem befreit ungefragt potenziell Minderjährige und erwartet dafür Sex und Ehe). In Fantasy-Geschichten ist er ein unberechenbarer, versehentlich aufgeweckter Risikofaktor (Kategorie Hobbit verärgert Schatzmeister und löst Inferno aus).
Und für Kinder stellt man gern ein grünes Ungeheuer auf die kurzen Hinterbeine und macht es dadurch nahbar, weil menschlich (Kategorie Tabaluga), oder gleicht sein Erscheinungsbild einem Pudelmischling an (Kategorie Fuchur).
Selbst ist der Drache – und der Mensch auch
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Bei den alten Griechen wiederum ist die Rede von mehrköpfigen, schlangenartigen Bestien, im Christentum gibt es eine Verbindung zwischen Drachen und dem Teufel, und in der hebräischen Bibel ist der Leviathan, ein drachenähnliches Mischwesen, Gottes Endgegner im Kampf um die Welt. Also alles in allem eher ein bedrohlicher Genosse.
Die (süd)ostasiatischen Drachen hingegen sind häufig Glücksbringer und Beschützer. Zwar sind sie nicht durchweg gut, aber sie speien kein Feuer oder kidnappen Prinzessinnen, sondern sind Geschöpfe des Wassers, die Regen und Fruchtbarkeit bringen. Eine chinesische Legende besagt, dass es vier Meeresdrachen waren, die sich in die vier großen Flüsse des Landes verwandelten, um die Menschen von der Dürre zu befreien. Und in Indonesien beschützt eine weibliche Drachin während der Ernte die Felder vor Mäusen.
Was all die Ambivalenz für das Jahr des Drachen bedeutet, das an diesem Samstag beginnt?
Das Schönste an Mythen ist ja, dass man sich aussuchen kann, welche einem am besten gefällt. Warum also nicht auf ein gutes Drachenjahr hoffen, in dem Schutz erhält, wer ihn benötigt (Geflüchtete, Klima, Demokratie), und sich fürchten muss, wer es verdient (Faschos, Superreiche)? Und es muss ja nicht beim Hoffen bleiben. Selbst ist der Drache – und der Mensch schließlich auch.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?