: Eine Frage der Nähe
Auch wenn es oft nicht an Bewerbungen fehlt, ist es für Gemeinden nicht leicht, eine geeignete Person fürs Bürgermeisteramt zu finden. Auf der Nordseeinsel Wangerooge haben sich CDU, SPD und Grüne zusammengetan und eine Stellenanzeige aufgegeben. Am 17. August wird gewählt

Aus Wangerooge Ilka Kreutzträger
So ein Bürgermeister kann den Bürgern nicht ausweichen. In kleinen Gemeinden trifft man sich im Supermarkt, am Gartenzaun, beim Gassigehen, auf dem Fußballplatz, muss überall Rede und Antwort stehen. Das neue Feuerwehrhaus? Wieso ist das immer noch nicht da? Wieso darf ich meinen Acker nicht mehr bis zum Rand bestellen, sondern muss da Platz für Gestrüpp lassen? Wieso hat meine Tochter immer noch keine bezahlbare Wohnung gefunden? Und was ist eigentlich mit dem Schwimmbad? Frau Bürgermeisterin, nun sach doch mal!
In Deutschland gibt es knapp 11.000 Gemeinden. Und deren Bürgermeister und Bürgermeisterinnen sind die Schlüsselfiguren in einer bürgernahen politischen Repräsentation. Anders gesagt: Sie sind da, sie wohnen vor Ort, sie sind gewissermaßen Politik zum Ansprechen. Gut 60 Prozent aller Bürgermeister*innen in Deutschland sind ehrenamtlich tätig. Eine Gemeinde, die gerade einen hauptamtlichen Bürgermeisterposten zu vergeben hat, ist Wangerooge. Gesprochen nicht wie Wange und Rooge, sondern Wanger, altgermanisch für Wiese, und Ooge, friesisch für Insel. Wer das falsch macht, outet sich sofort als nicht von hier. Die knapp etwa 8,5 Kilometer lange und etwa 2 Kilometer breite Düneninsel im niedersächsischen Wattenmeer ist die östlichste der sieben bewohnten ostfriesischen Inseln.
Wangerooge hat viele Probleme, die andere kleine ländliche Gemeinden auch haben: Sie ist pleite, die Bevölkerung ist alt, rund 40 Prozent sind älter als 65 Jahre, die Jungen verlassen das Dorf, Fachkräfte fehlen auch. Der einzige Zahnarzt auf Wangerooge ist über 70, macht aber noch weiter, weil es keinen Nachfolger gibt. Außerdem ist die Insel voll mit Touristen, die aber eben nicht genug Geld in der Gemeinde lassen, als dass die sorgenfrei leben könnte. Es gibt zu wenig bezahlbaren Wohnraum für die Einheimischen und Stürme spülen regelmäßig den Strand weg. Auf all das soll der neue Bürgermeister eine Antwort haben.
Am 17. August wird gewählt. Fünf Männer und eine Frau treten gegeneinander an, wollen, so heißt es in der Niedersächsischen Kommunalbesoldungsverordnung, Hauptverwaltungsbeamtin werden. Für Gemeinden bis 10.000 Einwohnern gibt es dafür B1, also so rund 100.000 Euro im Jahr, das ist die niedrigste Besoldungsstufe. Den aussichtsreichsten Kandidaten haben SPD, Grüne und CDU gemeinsam per Stellenanzeige gesucht und gefunden. Einen Festländer. So sagen sie das hier. Vor Ort, so sehen es die Vertreter der drei Parteien, habe keiner alle ihre Anforderungen erfüllt: vor allem fachlich.
Zwei Wochen vor der Wahl ist von Wahlkampf auf der kleinen Insel nicht viel zu spüren. Ganze zwei Wahlplakate finden sich. Sie hängen beide hoch oben außer Reichweite an Laternenmasten an der Straße, die schnurgerade den Bahnhof und das Café Pudding an der Strandpromenade verbindet.
Am Festland hatte es am Morgen noch Bindfäden geregnet. Während der Fährfahrt mit schlechter Luft unter Deck und wundervoller Aussicht auf die Nordsee verflüchtigt sich der Regen, der Himmel reißt auf. Auf der Insel angekommen, steigen alle von der Fähre um in die Inselbahn und zuckeln durch Salzwiesen ins Dorf. Anders kommt man nicht her, es sei denn, man steigt ins Flugzeug. Fünf Minuten dauert der Flug vom Festland, 75 Euro kostet ein Weg. Oder man nimmt sein eigenes Boot. Alle anderen sitzen eben in der Inselbahn. „Riecht schon toll nach Fisch“, versucht eine Frau ihren Teenie-Sohn zu begeistern, „Mh mh“, sagt der und guckt aufs Handy.
Nach einer kleinen Weile fährt die Bahn, deren Vierersitze aus einer Zeit kommen, in der die Leute oder das Gepäck noch kleiner waren, in den Bahnhof ein. Auf einen Schlag ist es für ein paar Minuten bummsvoll, neue Gäste, winkende Abholer und Abreisebereite mischen sich. Einige Ankömmlinge bleiben im kleinen Kiosk am Rande des Bahnhofsvorplatzes hängen, einige kaufen tatsächlich eine Zeitung. Die meisten ziehen sofort los, ihre Koffer hinter sich her.
Wartet man im kleinen Kurpark namens Rosengarten – Rosen sind nicht zu sehen, nur eine Bühne und ein paar bunte Wimpel an Schnüren und ein paar obligatorische Strandkörbe –, verklingt das Gerumpel der Rollkoffer langsam. Irgendwann ist die Luft wieder rein. Mehrmals am Tag schwappen diese Besucherwellen auf die Insel. Viele kommen seit Jahrzehnten immer wieder. Manche haben ihren zweiten Wohnsitz auf der Insel, sind also quasi hier zu Hause, wählen dürfen sie aber nicht.
Etwa 60 Leute sind an diesem Abend in den Kleinen Kursaal in der Kurverwaltung gekommen, CDU, SPD und Grüne stellen ihren Kandidaten zum ersten Mal offiziell vor. Es sind mehr Interessierte als erwartet. Auch die 580 Bewerbungen, die auf die Stellenanzeige eingingen, waren mehr, als man erwartet hatte.
Die Stellenanzeige hing zum Beispiel an den schwarzen Brettern im Dorf, neben Hinweisen auf Wattwanderausflüge und amtlichen Bekanntmachungen. Auch in verschiedenen lokalen Tageszeitungen wurde sie Ende März geschaltet, und sie ging an die Deutsche Presseagentur. So verbreitete sich die ungewöhnliche Kandidatensuche schnell, auch der NDR griff das gern auf, der Spiegel und die Zeit: Inselgemeinde sucht per Stellenanzeige einen Bürgermeister. Das verkauft sich gut.
„Bei uns können Sie an verantwortlicher Stelle Zukunft gestalten“, hieß es in der Anzeige. Aufgaben: Verantwortliche Leitung der Gemeindeverwaltung, Unterstützung bei Finanzen, Ordnungsamt und Personalwesen und auch ein bisschen Repräsentieren. Rausgekommen ist nach mehreren Runden im Bewerbungsverfahren Sven Janisch, ein niedersächsischer Verwaltungsbeamter durch und durch, der Wangerooge bereits ein wenig kennt. Ein paar Mal hat er hier Urlaub gemacht. Er sagt, sein Umfeld finde es schon verrückt, dass er sich jetzt hier auf der Insel in die erste Reihe stellen wolle.
Jetzt steht Janisch erst mal am Eingang des Kleinen Kursaals und schüttelt Hände. Die großen Fenster lenken den Blick raus auf die Promenade und zum Meer, das nur wenige Meter entfernt ist. Salzige Luft und Möwenkreischen, dazu leises Gemurmel im Saal. Vorne sitzen Vertreter der drei Parteien. In der zweiten Reihe des Saals sitzt ein Ehepaar, er stellt sich als Enkel des ersten Wangerooger Bürgermeisters vor, sie war Politiklehrerin. Die beiden haben neben einer Wohnung in Berlin ihren Erstwohnsitz hier, dürfen also wählen. So richtig im Sinne der demokratischen Idee sei es doch nicht, wenn drei Parteien sich zusammentun und einen gemeinsamen Kandidaten suchen, findet sie. Wozu gebe es denn Parteien?
Die Antwort der drei Parteien ist, dass sie ihre parteipolitischen Interessen zugunsten des Wohls der Gemeinde zurückstellen. Partei Wangerooge eben.
Janisch in locker sitzendem weißen Kurzarmhemd und beiger Hose stellt sich den Fragen seiner potenziellen Wählerinnen und Wähler. Und die wollen vor allem von ihm wissen, ob er denn auf die Insel ziehe? Wie viele Tage im Jahr er die Insel verlassen werde, wenn er Bürgermeister ist? 330 Tage müsste er doch hier statt auf dem Festland sein, oder? Wie er sich in die Dorfgemeinschaft einbringen wolle? Ob seine Familie mit herziehe? Genau diese Nähe, die mit den Fragen an den Kandidaten für das Bürgermeisteramt eingefordert wird, muss man wollen und aushalten können.
Janisch ist 51, er hat sein ganzes Berufsleben in der niedersächsischen Kommunalverwaltung verbracht, zuletzt als Kämmerer der Stadt Sarstedt. Zweimal hat er schon anderswo erfolglos für ein Bürgermeisteramt kandidiert. Er bezeichnet sich als Verwaltungsmenschen, der politisch interessiert ist, ist in der freiwilligen Feuerwehr aktiv. Den Job des Bürgermeisters vergleicht er mit dem des Geschäftsführers eines Konzerns. Kein Charismatiker, ein Mann der Zahlen, vielleicht keine schlechte Idee für eine so verschuldete Gemeinde wie Wangerooge.
Er schafft es, sich an diesem ersten Abend nicht zu Zusagen wie „In fünf Jahren haben alle Insulaner bezahlbaren Wohnraum“ oder „Ich werde diese Insel 330 Tage im Jahr nicht verlassen“ hinreißen zu lassen. Etwas Scholzeskes haftet ihm an. Zwar nimmt er nicht das Wort „vernünftig“ in den Mund und so ein Bürgermeister regiert ja auch gar nicht, er verwaltet bloß, aber trotzdem. Janisch ist eigentlich auch Genosse, hat den ehemaligen Bundeskanzler Olaf Scholz natürlich schon zweimal getroffen, aber für seine Kandidatur lässt er die SPD-Mitgliedschaft ruhen, schließlich ist er doch der Kandidat der drei Parteien.
Auch wenn der Ton in den vergangenen Jahren in den Gemeinden rauer geworden ist, scheint es doch oft zu passen: das Verhältnis zwischen Bürgermeister und Bürgern. Denn Bürgermeister genießen in Deutschland in der Bevölkerung im Durchschnitt mehr Vertrauen als Politiker von Land und Bund. Eben weil sie da sind, ansprechbar sind.
Aber Gemeinden haben zunehmend Schwierigkeiten, jemanden zu finden, der dieses Amt ausführen will und kann. Der niedersächsische Landtag hat Anfang des Jahres darauf reagiert und die Amtszeit von Bürgermeister*innen und Landrät*innen von fünf auf acht Jahre verlängert. Ein Vorstoß von Rot-Grün, um das Amt attraktiver zu machen. Dabei hatte erst 2013 ebenfalls Rot-Grün die Amtszeit mit der gleichen Begründung von acht auf fünf Jahre verkürzt. Nun soll die achtjährige Laufzeit doch wieder besser sein, weil die Amtsträger dann langfristiger planen können.
Peter Kuchenbuch-Hanken, Fraktionsvorsitzender der Grünen
Manchmal passt es aber auch einfach nicht, egal, wie lang die Amtszeit dauert, dann ist schnell Schluss. Auf Wangerooge suchten SPD, Grüne und CDU schon bei der vorherigen Bürgermeisterwahl 2018 gemeinsam per Annonce jemanden, nachdem der Amtsinhaber überraschend verstorben war. Ihr Kandidat, ebenfalls ein Festländer, wurde auch gewählt. Trotzdem hielt das Konstrukt nicht lang. Der Rat der Gemeinde, der im Wesentlichen ebenfalls aus Vertretern von CDU, SPD und Grünen besteht, drohte dem Bürgermeister mit Abwahlverfahren, der trat lieber selbst zurück. Seit Herbst 2023 sind sie auf der Insel bürgermeisterlos.
Die Idee, einen Bürgermeisterkandidaten per Annonce zu suchen, reklamiert Peter Kuchenbuch-Hanken für sich. „Ich bin so ein großer blonder Jung“, sagt er als Erkennungszeichen für das Treffen im Friesenjung, einem Restaurant direkt an der Strandpromenade zwischen Kurverwaltung und dem alten Bürgermeisterhaus. Er ist 63, Fraktionsvorsitzender der Grünen, stellvertretender Bürgermeister, Lehrer, Fotograf, hat früher Volleyball gespielt und kam mal aus Delmenhorst auf die Insel. Er weiß, dass es für manche Dinge eben nur eine Frage der Verkaufe ist.
Als sie zum Beispiel eigentlich einen Hausmeister für den Leuchtturm auf der Insel suchten, kam er auf die Idee, eine Anzeige aufzugeben und einen Leuchtturmwärter zu suchen. Zack, bumm, war die Stelle besetzt. Mehr als 1.000 Leute hatten sich beworben. Das müsste doch auch für das Amt des Bürgermeisters funktionieren, dachte er sich. Auch wenn es auf der Insel schon Leute gibt, die das machen wollen. „Wir brauchen aber jemanden, der weiß, wie eine Verwaltung funktioniert, und der was gegen die Verschuldung unternehmen kann“, sagt Kuchenbuch-Hanken. „Klar, es heißt immer, arbeiten, wo andere Urlaub machen, aber es ist so klein hier, das man richtig mitarbeiten muss.“
Es fehle in der Gemeindeverwaltung an Fachpersonal, um neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ausbilden zu dürfen. „Darum brauchen wir auf dem Bürgermeisterposten unbedingt jemanden, der das kann“, sagt Kuchenbuch-Hanken. Schon auf dem Festland sei es schwierig, geeignetes Personal mit Fachqualifikation zu finden. Und auf der Insel? Fast unmöglich. Daher die Idee mit der Annonce.
Das mit dem Fachkräftemangel gilt nicht nur für den Bürgermeister. Früher, erzählt Kuchenbuch-Hanken, ging die Saison hier von O bis O. Von Ostern bis Oktober, dazwischen war Ruhe, im Winter wurden die Fenster der Läden mit Holz verrammelt, damit die Scheiben nicht blind werden.
Heute währt die Saison das ganze Jahr, 365 Tage. Im Sommer sind zwar immer noch die meisten Leute hier zu Besuch, aber mit der Ruhe ist es vorbei. Und mit dem auskömmlichen Einkommen auch. Es lohne sich kaum mehr, wer selbstständig ist, arbeitet quasi durch, sagt Kuchenbuch-Hanken. Obendrauf komme das Nachwuchsproblem. Die Jungen wollen oft die Geschäfte ihrer Eltern nicht übernehmen, verlassen die Insel, statt sich rund um die Uhr abzuarbeiten. „Überall quietscht es.“
Am nächsten Tag sitzt Janisch vor einem Cappuccino und hat Zeit mitgebracht. „Heute ist Wassertag“, sagt er. Ein Tag also, an dem er es schafft, wenigstens einmal zum Wasser runter zu gehen. Seit gut zweieinhalb Wochen ist er nun auf der Insel und oft komme er nicht dazu. Dabei ist das Wasser allgegenwärtig, und man ist hier sowieso immer in der Nähe von allem, weil nichts weit weg ist. Er nennt sich einen Überzeugungstäter, einen Idealisten. „Anders hält du das nicht durch.“
Viele, die eigentlich für Jobs wie den Bürgermeister auf Wangerooge qualifiziert wären, machen es aber nicht. Wollen sich nicht in die Schusslinie begeben. Wollen ihre Komfortzone nicht verlassen.
„Wer in der Verwaltung tätig ist, muss das auch nicht, denn der weiß, dass man einfach bis zur Pension einen ruhigen Stiefel fahren kann“, sagt Janisch. Darum gibt es auch Probleme, Leute aus der Verwaltung zu finden, die für so einen Job zur Verfügung stehen.
Schwierig findet er, dass heute so wenig Debatte möglich sei und dass die AfD erstarkt, für ihn ein klarer Zusammenhang. „Heute wollen viele einfach recht haben und es geht weniger um den Austausch, dagegen muss unbedingt was getan werden“, sagt er. Corona als Erklärung dafür reicht ihm nicht, das müsse noch was anderes sein. Das will er jetzt rausfinden.
Beide Chöre der Insel haben ihn schon gefragt, wie er es denn mit dem Singen so halte, ob er mitmachen wolle. Wer sich für so einen Job entscheidet, muss wissen, dass er, gerade in einer so kleinen Gemeinde und dann noch auf der Insel, alle naslang angesprochen wird. „Das ist 24/7“ sagt er. Für ihn kein Problem, wenn sie ihn denn wählen. Auf die Insel will er dann auf jeden Fall ziehen.
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