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Ein ukrainisches WörterbuchMein Maidan

In Kiew auf dem Platz der Unabhängigkeit rast die Zeit. Manche Worte bleiben, andere ändern ihre Bedeutung. Und unterdessen geht die Revolution weiter.

Die Politiker der offiziellen Opposition hörten unsere Stimme nur dann, wenn Tausende gleichzeitig und so laut wie möglich schrien. – Maidan am 22. Februar. Bild: dpa

Janukowitsch ist nicht mehr Präsident, aber der Protest auf dem Maidan geht weiter. Die Ereignisse entwickeln sich schneller, als ich darüber nachdenken kann, Was ist in den letzten Monaten alles passiert!

Mein Freund und ich waren von Anfang an bei den Protesten dabei. Von Ende November bis Anfang Februar war ich in Kiew und habe mitdemonstriert. Auf den Maidan zu gehen war wie Arbeit.

Jeden Tag ging ich hin und blieb ein paar Stunden, je nachdem, was dort los war. Oft auch nachts. Wenn ich nicht auf dem Platz war, passte ich auf Verletzte in Krankenhäusern auf, kaufte Seife und Zahnbürsten für die Protestierenden oder entwarf Flugblätter mit Hinweisen, wie man sich gegenüber der Polizei oder in einer gefährlichen Situation verhalten soll.

Seit Anfang Februar hospitiere ich im Wiener Institut für die Wissenschaften vom Menschen als Übersetzerin. Von Wien aus habe ich jeden Tag fünf- bis sechsmal mit meinem Freund telefoniert oder geskypt. Er war Tag und Nacht auf dem Maidan, sammelte Müll für die brennenden Barrikaden und Steine für die vorderen Reihen. Besonders nachts hatte ich Angst um ihn und habe immer wieder angerufen, um mich zu vergewissern, dass alles okay ist. Ein paar kurze Sätze genügten uns: „Alle machen alles“, sagte er und: „Es brennt überall.“

Nun haben die Straßen aufgehört zu brennen, nun sind es die Nachrichten, die in Flammen stehen, und es gelingt mir zum ersten Mal, die einzelnen Fragmente des Erlebten in Wörter und Sätze zu verwandeln.

Zynismus international

Bilder aus Kiew

Eine Bildergalerie über den Umsturz in Kiew finden Sie hier.

Der Euro galt in der Ukraine in den letzten Jahrzehnten als eine besondere Währung. Dabei ging es nicht um Geld. Der Euro war vielmehr ein Symbol für Lebensqualität. Jeder, der etwas Gutes bieten wollte, hängte diese Vorsilbe an: Eurostandards bei Dienstleistungen, Eurorenovierungen, Euromöbel, Eurofahrradreifen etc. Und natürlich träumten die Ukrainer von den „europäischen Werten“ auf der anderen Seite der Schengener Festung.

Ich war diesen Erwartungen gegenüber immer skeptisch und hielt dieses Festhalten an einer Vorsilbe für ein Zeichen dafür, in welcher Auswegslosigkeit sich das postsowjetische Kleinbürgertum befand. Aber ich habe mich geirrt. In dem Wort „Euro“ steckte plötzlich ein Befreiungspotenzial, das weit über die Grenzen des bislang für möglich Gehaltenen hinausreichte. Die brennenden Barrikaden auf dem Maidan warfen ihr Licht auf den Wunsch und das Streben der Ukrainer nach der Anerkennung menschlicher Werte, die zuvor unter dem Zynismus der lokalen und internationalen Medien, der Politiker und all der Experten nicht mehr zu sehen waren.

Für viele wurde der Protest zu einer Fahrkarte ohne Rückfahrschein. Fast einhundert Menschen sind tot, Tausende wurden verwundet und gefoltert. Als sich die Fernsehberichte über die Gewalt gegen friedliche Demonstranten häuften, haben viele einfach das Nötigste zusammengepackt, eine Fahrkarte nach Kiew gekauft und haben sich auf dem Maidan niedergelassen. Zahlreiche Jungs haben sich auch freiwillig gemeldet, um bei der Selbstverteidigungstruppe mitzumachen. Sie gaben sich Künstlernamen, weil sie wussten, dass auf diejenigen, die sich mit echtem Namen einschreiben lassen, in ihren Heimatstädten schon die Polizei wartet. Sie durften nicht mehr nach Hause.

Am 20. Januar traf ich auf der Hruschewskoho-Straße eine Bekannte, die ebenso wie ich gekommen war, um etwas abseits zu stehen, während die anderen Protestierenden weiter vorne die Molotowcocktails warfen. Sie sagte mir, es sei wichtig, hier zu sein, damit die Jungs und die Polizisten wissen, dass wir, die anderen Stadtbewohner, den Radikalen den Rücken stärken.

Mit unseren Körpern kämpften wir gegen die innen- und außenpolitische Einsamkeit. Die Politiker der offiziellen Opposition hörten unsere Stimme nur dann, wenn Tausende gleichzeitig und so laut wie möglich schrien. Und den europäischen Politikern genügte es nicht, dass die Gummigeschosse der Polizei aus unseren Köpfen die Augen schossen und deren Knüppel unsere Knochen brachen. Erst als Dutzende Menschen erschossen auf dem Maidan lagen, war die EU endlich schockiert.

Gemeinsam neben Verletzten wachen

Gegen die politische Einsamkeit half die menschliche Nachbarschaft. Tschechische Ärzte kamen nach Kiew, um die Verwundeten zu versorgen. Oft war ich im Krankenhaus nahe des Maidan und habe das mit eigenen Augen gesehen. Ein polnisches Flugzeug flog die Schwerverletzten nach Polen zur Behandlung aus. In der Klinik nahe meiner Wohnung sprach ich mit Veteranen des sowjetischen Afghanistankriegs. Gemeinsam wachten wir neben Verletzten und Leichen, um zu verhindern, dass die Polizei und ihre zivilen Komplizen sie wegbringen.

Im Laufe der Proteste verwandelte sich der Maidan von einem Platz, auf dem die Menschen demonstrierten in eine Kosakensiedlung mit Zelten, einer Küche, einer Bühne, einer Kapelle und einer Offenen Universität. Das alles umgeben von Barrikaden. Ende Dezember zeigten meine Freunde eine Doku in dieser Offenen Universität. Der Film hieß „Zhanaosen. Eine unbekannte Tragödie“. Es ging um den brutal niedergeschlagenen Arbeiterprotest in der kasachischen Stadt Zhanaosen, der 70 Tote forderte. Der Film wurde nie auf großen internationalen Festivals gezeigt. Offenbar wollten sich die anderen Länder, die auf höchster politischer Ebene mit Nursultan Nasarbajew, dem kasachischen Präsidenten, kooperierten, nicht mit diesem Thema auseinandersetzen. Ich war gerührt und dachte, so etwas kann bei uns nicht passieren.

Der Vorwurf des Faschismus war einer der wichtigsten Gründe, den Protest auf dem Maidan nicht zu unterstützen. Dabei ist Janukowitsch der ukrainische Faschist Nummer eins. Zusammen mit seinen Oligarchen brachte er ein politisches Kind namens Swoboda-Partei zur Welt. Nun hatten wir, die Bürger, die schreckliche Wahl zwischen ihm und der rechten Swoboda als Opposition. Die Antifaschisten in der Ukraine und der Welt mussten zusehen, wie die Demonstranten am 18. Februar auf dem Maidan erschossen und mit Wasser begossen wurden.

Immer noch sehe ich diese Bilder: Der zugenähte Mund des einen, ein anderer, den die Polizisten zwangen, sich auf Feuerwerkskörper zu setzten, eine Schwangere, die festgenommen und bis zur Fehlgeburt geschlagen wurde. Viele könnten solche Geschichte erzählen. Es gab Tage, an denen das Tränengas unsere Luft war. Und ich frage mich noch immer: Was sollte den Menschen noch angetan werden, damit die Swoboda-Fahnen auf dem Maidan nicht schrecklicher schienen?

Euer Zynismus

Den internationalen Linken, die unsere Proteste wegen der Rechten auf dem Maidan nicht unterstützten, kann ich nur sagen: Euer Zynismus ist der kleine Bruder des Kapitalismus! Lenins Denkmäler mögen in der Ukraine gefallen sein, aber der Geist der Revolution lebt. Aber offenbar begreifen dogmatische Linke diese Dialektik nicht.

Zu Weihnachten schenkte ich mir selbst neue Schuhe für den Maidan: warme Stiefel mit hohen Sohlen, die nicht rutschen. Um lange in der Kälte stehen zu können, haben wir uns Senfpflaster in die Schuhe gelegt. In der sowjetischen Medizin wurden sie häufig verwendet, weil die Senfpflanze auf der Haut brennt und dadurch wärmt. Auch eine Thermoskanne mit heißen Tee hatte ich immer dabei. In den durchwachten Nächten zitterte ich trotzdem ununterbrochen vor Kälte. Zwar bin ich jetzt weit von Kiew entfernt, aber das Zittern kommt immer wieder, wenn ich morgens meinen Laptop aufklappe, die Nachrichten lese und die Livestreams ansehe, die die Menschen auf dem Maidan ins Internet übertragen.

In diesem Winter haben die Ukrainer den Frost besiegt. Sie packten den Schnee in Säcke und schichteten diese zu Barrikaden auf.

Ich weiß nicht, wie lange diese Barrikaden noch halten. In der Frühlingssonne schmilzt der Schnee. Aber ich hoffe, dass wir auch in Zukunft als Baumaterial für Barrikaden das anwenden, was uns stört und stoppt.

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9 Kommentare

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  • liebe deutsche kommentatoren, ihr seid euch euerer privilegien nicht bewusst. alles, was ihr in eurem land für selbstverständlich haltet, müssen wir erkämpfen. kommt mal in die ukraine, in die tiefe provinz. in der ukraine herrscht neofeudalismus, die menschenrechte werden verletzt, nach russland ist die ukraine das zweitgrößte polizeistaat europas. putsch (bewaffnete machtergreifung), von dem geschrieben wurde, passiert grade auf der krim. aber putins gas ist für euch wahrscheinlich wertvoll genug, um das blutige regime von janukowitsch und putin zu rechtfertigen. kennt ihr etwas über janukowitsch? war seine politik nicht rechts? ihr seid euroskeptisch, das kann ich verstehen. doch den ukrainern geht es nicht um die eu, wir kämpfen für die basis, auf der wir ein gerechtes und demokratisches land aufbauen können.

  • EG
    Ein Gast

    Liebe Frau Mishchenko,

     

    wo sind denn linke oder emanzipatorische Inhalte der Proteste, wegen derer die weltweite Linke diese unterstützen sollte? Die Wörter „Faschismus“, „Dialektik“, „Revolution“ und „Schuhe“ zu streuen, reicht nicht.

     

    Und wie kommt es zu kritischen Stimmen unter ukrainischen Anarchisten?

    http://avtonomia.net/2014/02/20/maidan-contradictions-interview-ukrainian-revolutionary-syndicalist/

  • V
    vcpe

    was ist denn eigentlich los mit der taz? zuerst wird janukowitsch als verrückt bezeichnet, weil er die maidan-aktivisten als extremisten bezeichnet (ein fakt, den die taz vergangene woche noch selbst bestätigte). aufeinmal ist janukowitsch der faschist (was jeglichem verständnis des faschismus entbehrt). ein protest, der den wohlstand der eu einfordert, (ein marktwirtschaftlicher wohlstand) bezieht sich hier plötzlich auf lenin und den kommunismus.

    wie kommt die taz dazu, hier offen querfront aufgerufen?

  • A
    Arne

    Der Vorwurf des Dogmatismus und des Zynismus ist eigentlich interessant.

    Man fragt sich bei dem Dogmatismusvorwurf wirklich, welche Informationen den Menschen auf dem Maidan gegeben wurde über die Menschen, die Skepsis haben, ein in irgendeiner Form demokratisch gewähltes System gewaltsam zu beseitigen. Vielleicht sollten auch die Maidan-Demonstranten mal erklärt werden, warum gerade die undogmatischen Linken in Deutschland sehr, sehr schlechte Erfahrungen mit "revolutionären" Kämpfern gemacht haben, die gestern Polizisten ansteckten und später ganze Landstriche bombadierten.

     

    Evtl. wird auch der Autorin mal klar werden, dass über den Putsch gegen Janukowitsch kein Toter sich mehr freuen kann. Wahrscheinlich ist der Wert menschlichen Lebens bei den Protestlern noch lange nicht auf dem humanitären Level der Europäer, sondern evtl. wirklich nur ein "Eurohumanismus", von den die Menschen hier täglich hören, wenn sie z.B. von dem Umgang mit Flüchtlingen an den EU-Außengrenzen hören. Zynisch ist es dann, diese Toten in Kauf zu nehmen, um in Zusammenarbeit mit Faschisten eine rein destruktive Arbeit wie einen Putsch vorzunehmen ohne die zukünftige Alternativen zu kennen.

     

    Über die Beziehungen von Janukowitschs Partei der Regionen zur Swoboda, die die Autorin dort behauptet, ist hier nichts bekannt. Da scheint es hier ein Informationsdefizit zu geben, dass die taz evtl. mal beseitigen könnte, indem sie die Autorin um genauere Belege bittet. Internetrecherchen bringen bei mir nur eine Zusammenarbeit der Swoboda mit LePen und FPÖ zu Tage.

    • @Arne:

      Das ist klassische westeuropäische Überheblichkeit und Besserwisserei - wann endlich reflektiert die deutsche Linke mal ihre eigene koloniale Haltung?

      • G
        genervter
        @Irma Kreiten:

        Dafür, dass "Arne" hier ein paar Faktenanmerkungen macht, kommst aber nun du mit total inhaltsleerem Gegengeblaffe? Er erwähnt, dass der Putsch Getötete verschuldet hat, er weist auf eine Falschbehauptung im Zeitungsartikel hin, er nennt Namen faschistischer Verbindungsschläge. Du krähst hier andauernd nur rum: DeutscheLinke-DeutscheLinke.

  • G
    Gastritis

    Schlimme, auf Ergriffenheit spekulierende, "Krokodilstränen" über andererseits wahrhaftiges Leid vieler Beteiligten. Die Unglaubwürdigkeit Deiner Mitmenschlichkeit steckt im Nichtgesehenhaben des Leidens- und Schmerzensweges auch der blutjungen Polizisten. Deine Mitgefühlsäußerungen kannst Du also getrost für Dich behalten. Affektiertes Instrumentalgefühl!

  • "Den internationalen Linken, die unsere Proteste wegen der Rechten auf dem Maidan nicht unterstützten, kann ich nur sagen: Euer Zynismus ist der kleine Bruder des Kapitalismus!"

     

    Gefühle allein machen keine Revolution. Der Text ist ein Stück herzerweichende Propaganda. Er wird nicht mehr durch den Gebrauch der Worte 'Dialektik' und 'Kapitalismus'.

     

    Die Realität ist aber, dass der Rebellion in der Ukraine jeder antikapitalistische Ansatz fehlt.

  • PH
    Peter Haller

    "Lenins Denkmäler mögen in der Ukraine gefallen sein, aber der Geist der Revolution lebt."

    Ui,ui,ui, welche Revolution ? Ich finde es schlimm, wie dieser Begriff so langsam in die Bedeutungslosigkeit versinkt.