Schlagloch: Ein Vatermord steht an
Von Klaus Kreimeier
„Meine Truppen stehen.“ (Helmut Kohl)
Noch einmal gab es, am letzten Freitag, eine gewaltige Symbiose zwischen Kohls Körperfülle und dem Bildergebirge des Fernsehens, eine Vereinigungs- und Verdrängungsorgie zugleich. Sie schob alles, was an diesem Abend in den öffentlich-rechtlichen Kanälen Sichtbarkeit und Gehör begehren mochte, mit einer von sechzehn Jahren Kanzlerschaft aufgequollenen Präsenz beiseite. Es begann mit einem Kameraumschnitt im ZDF, als Kohl – zwar angekündigt, doch mit überrumpelnder Plötzlichkeit – das „heute“-Studio füllte. Und noch zu später Stunde riss sein Redeschwall nicht ab, als er, aus Mainz zugeschaltet, die „Tagesthemen“ nutzte, um endgültig die Herrschaft über das Programm und die angeschlossene Bevölkerung zu usurpieren.
Zwischendurch präsentierte Jörg Haider seine im rhetorischen Florettstil geübte Taktik als politisches Chamäleon so fintenreich, dass weder der hochtoupierte Gottlieb noch die wächsern-dämonisch dreinblickende Marion van Haaren die Selbsternennung des rabiaten Rechtspopulisten zum liberalen Ausländerfreund und vehementen Antifaschisten zu durchkreuzen vermochten. Was für ein Abend! Die beiden gegenwärtig am höchsten gehandelten politischen Übeltäter Mitteleuropas okkupierten das Fernsehen – und siehe, das Medium zeigte sich auf der Höhe seiner Präsentationskunst und zugleich auf dem Tiefpunkt seiner journalistischen Qualität.
Auch dem Leitmedium fehlt zum Vatermord, mit dem die CDU seit Monaten sich quält, der Mumm. Unversehens zeigt sich, dass wir in der Tat nicht nur die Krise einer Partei besichtigen, sondern allesamt in einer gesellschaftlichen Krise stecken, die zwar nicht in den politischen Dimensionen, sehr wohl aber in ihren kollektivpsychologischen Schwingungen mit der Systemkrise der DDR vor zehn Jahren vergleichbar ist. Wenn die damalige Wende als Zusammenbruch einer autokratisch regierenden Staatspartei begann und mit dem langsamen Abschied von einem autoritären, in den Subjekten tief verwurzelten gesellschaftlichen Milieu seinen Fortgang nahm, so haben wir es heute mit einer Wende in unserer noch immer von der westdeutschen Geschichte – das heißt: von Helmut Kohl – dominierten Seelenlandschaft zu tun. Zweieinhalb Jahrzehnte Parteivorsitz und sechzehn Jahre im Bundeskanzleramt machten Kohl, für das Sozialgefüge wie für den psychischen Zustand der Bundesrepublik, zu einem ubiquitären Phänomen. Das Phänomen sickerte als Fluidum, somit osmotisch in die Haushalte ein. Es ließ das, was finanzstrategisch ein „System“ gewesen sein mag, zu weit mehr, nämlich zu einer allumfassenden atmosphärischen Strömung werden. Oggersheim war überall, das Bild des treu sorgenden Hausvaters hüllte eine parteiübergreifende Aura ein. Kohls inbrünstigem Augenaufschlag, dem moralgetränkten Unterton noch seiner schamlosesten Verlautbarungen vermochten sich am allerwenigsten diejenigen zu entziehen, die ihn nie gewählt hatten, aber einen Phantomschmerz bekämpfen mussten, als die Mehrheit der Wähler schließlich seiner überdrüssig geworden war.
So fand eine sehr weitgehende und langandauernde Besetzung zunächst der west-, dann partiell auch der ostdeutschen Gemütsverfassung statt – durch einen Souverän, der stets vorgab, gleichzeitig das Volk selbst und sein Repräsentant zu sein. Schon aus diesem Grund missachtete er die politischen Institutionen, soweit sie ihm nicht als Instrumente unmittelbar zu Gebote standen. Es entstand ein von Kohl imprägniertes Klima, nicht zuletzt dank der Bildermaschine Fernsehen. Diese Dienstleistungsmaschine bewährt sich – unter dem Vorwand, uns zu informieren und zu unterhalten, vor allem als Hochleistungsreaktor auf dem Gebiet der gesellschaftlichen Stimmungen, Gefühlsanwandlungen und emotionalen Stoffwechselvorgänge.
Kohl vermittelte sich der Bevölkerung über das Fernsehen, ohne dass er – wie die meisten anderen Politiker – sich der Mühe unterziehen musste, sich dem Medium anzuschmiegen. Er brauchte sein Ego gar nicht erst zu jenem Medienpolitiker umzuschminken, der als Sozialtypus der Fernsehära seit etlichen Jahren die Szene bevölkert. Kohl blieb stets Kohl; seine raumfüllende Identität mit sich selbst bestimmte auch seine Medienrealität – und dem Medium blieb kein anderer Ausweg, als sich diesem wandelnden Massiv von Selbstgewissheit zu unterwerfen. Der oft gerügte herrische Umgang mit Journalisten, soweit sie ihm im Weg standen oder sich gar als Fragesteller entpuppten, illustrierte auf der medialen Ebene, wie Kohl mit den politischen Gegnern in den eigenen Reihen verfuhr. Bedauerlicherweise trieb dieser Umgang nur Einzelne zur Weißglut; aufs Ganze gesehen traktierte dieser Mann mit denselben rüden und erfolgreichen Methoden den Medien- wie den Parteiapparat.
Der Übervater steht nun als Pate da und sein Laden als mafioser Betrieb, doch wie die Partei zeigt auch das Medium sehr ähnliche Hemmungen, sich der Suggestion zu entwinden und die Konstruktion zu zertrümmern, die es selbst aufgebaut hat. Dazu bedürfte es unerschrockener Journalisten, die sich endlich weigern, von Kohl wie lästige Fliegen behandelt zu werden. Doch noch immer löst seine Präsenz, in der ARD wie beim ZDF, die alten Reflexe aus. Sie nehmen denen, die bohrende Fragen zu stellen hätten, den Wind aus den Segeln und lassen sie so aussehen, als sei es ihre Berufsehre, sich eher auf die Zunge zu beißen, als dem Monolog der längst ramponierten Macht ins Wort zu fallen. Belluth und Deppendorf war von Beginn an ins Gesicht geschrieben, dass sie als Leichtgewichte einem ungleichen Kampf mit dem Meister aller Klassen entgegensahen, mochte der Champion auch längst entzaubert sein. Es kam, wie es kommen musste: Die Symbiose Kohls mit der Bildmaschine funktionierte und verhalf seinen Lügen gewiss nicht zur Reputation, doch zum Triumph eines rhetorischen Auftritts, der jeden Einspruch gleichermaßen moralisch hochnotpeinlich wie zum kläglichen Scheitern verurteilt erscheinen ließ.
Den „Medien“ wird, im Blick auf den Spendenskandal, demokratische Contenance, Augenmaß und sportliche Fairness nachgesagt. In Wirklichkeit zeichnen sie als seismografische Einrichtungen mehr oder minder genau die Befindlichkeiten des Gemeinwesens nach. Berichterstattung ist der geringste Teil dessen, was die Medien als Dienstleistungsbetriebe für die seelische Balance in der Informationsgesellschaft zu leisten haben. In einer Situation, in der alles nach „Fakten“ schreit, sorgt das Fernsehen für das Bühnenlicht, für die Bildergeschichten, die die Fakten einrahmen, und für die atmosphärischen Bedingungen, unter denen sie uns einholen und wir an ihnen zu leiden haben. Zur Zeit scheint nicht nur das CDU-Präsidium zu zögern; nicht nur die Partei hält, bis in ihre lokalen Gliederungen nach innen lauschend, den Atem an. Das „System Kohl“ war, dies wird inzwischen deutlich, mehr als ein Selbstbedienungsladen der Regierungspartei – es hatte sehr viel mit dem Aufstieg, den Lügen und Selbsttäuschungen der Gesellschaft zu tun. Und: Die Truppen stehen noch. Ein Vatermord steht bevor. Das Fernsehen kann dafür nur die Szene bereiten.
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