Ein Jahr nach der Naziattacke: Das Glück des Vergessens

Im Juli 2009 wird Jonas K. von Neonazis in Friedrichshain fast totgeschlagen. Trotzdem engagiert er sich weiter gegen rechts - auch auf der Silvio-Meier-Demonstration am kommenden Samstag.

Der Tatort: Der S-Bahnhof Frankfurter Allee in Berlin-Friedrichshain Bild: dpa

Nichts ist mehr da, keine einzige Erinnerung. Als Jonas K. wieder zu Hause ist, nach zwei Wochen Krankenhaus und vier Wochen Reha, blättert er durch Zeitungsartikel über einen Mordversuch von Neonazis an der Frankfurter Allee. Vier Rechtsextreme schlagen einen jungen Mann zusammen, einer tritt ihm mit Bordsteinkicks voller Wucht auf den Kopf. Der 22-Jährige überlebt. "Der Typ hat echt Glück gehabt", denkt Jonas K. Der Typ ist er.

"Retrograde Amnesie" attestieren die Ärzte Jonas K. am Krankenbett. Zeitweiliger Gedächtnisverlust. Der 12. Juli 2009, die Tage danach - alles ausgelöscht. Es ist der Zeitpunkt, an dem für Jonas K. beinah alles vorbei gewesen wäre. "Vielleicht", sagt er heute, "ist es am besten, nichts mehr davon zu wissen."

Es ist der traditionsreichste Antifa-Aufzug der Hauptstadt: die jährliche Silvio-Meier-Demonstration. Bereits zum 18. Mal soll am Samstag an den 1992 von einem Neonazi ermordeten Hausbesetzer Silvio Meier sowie an aktuelle Fälle rechtsextremer Gewalt erinnert werden. Die Demo unter dem Motto "Kampf den Nazis, Kampf dem Staat" startet um 15 Uhr am U-Bahnhof Samariterstraße im Friedrichshain.

An diesem Ort war der 27-jährige Silvio Meier erstochen worden, nachdem er versucht hatte, einem Neonazi einen rechten Aufnäher von der Jacke zu reißen. 2009 besuchten mehr als 2.000 Menschen die Gedenkdemonstration. Ähnlich viele werden in diesem Jahr erwartet.

Im Friedrichshain ereignete sich im Juli 2009 auch die brutalste Tat von Neonazi-Gewalt der letzten Zeit gegen den damals 22-jährigen Jonas K. (siehe oben). Laut Sabine Kritter von der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus hat der Überfall Aktivisten wie die Initiative gegen rechts oder das Register Friedrichshain in ihrem Engagement bestärkt. Die Tat habe aber auch gezeigt, dass im Bezirk noch einiges getan werden muss.

Laut dem Register Friedrichshain führt der Bezirk seit 2006 die Statistik rechtsextremer Vorfälle in Berlin an. Für 2010 dokumentierte die Initiative 75 rechte Vorfälle bis Ende Oktober. Die meisten betreffen Propaganda-Delikte, jeweils etwa ein Dutzend Fälle sind aber direkte Angriffe oder Bedrohungen.

Zuletzt waren auch in Kreuzberg und Neukölln alternative Läden oder Geschäftsstellen von Parteien mit rechten Symbolen beschmiert oder beschädigt worden. In der Nähe von Wohnungen vermeintlicher Neonazi-Gegner wurden Drohungen gesprayt. Ende Oktober gab es einen Brandanschlag auf den linken Infoladen m99 in Kreuzberg.

"Die Nazis werden wieder dreister", so Nico Nussinger, Sprecher des Silvio-Meier-Bündnisses. Antifa-Gruppen vermuten den Nationalen Widerstand Berlin hinter den Taten, eine lose organisierte Neonazi-Gruppe um den Kameradschaftler und NPD-Landesvize Sebastian Schmidtke. "Es gilt diese Täter aus der Deckung zu ziehen", so Lars Laumeyer von der Antifaschistischen Linken Berlin. Für Nussinger ist das offensivere Auftreten der Rechtsextremen auch dem von Sarrazin & Co popularisierten Alltagsrassismus geschuldet. "In diesem Fahrwasser können sich Nazis als Vollstrecker des Volkszorns gegen Migranten und Andersdenkende aufspielen." Die Demo richte sich daher auch gegen bürgerlichen und staatlichen Rassismus.

Es soll aber nicht nur beim Demonstrieren bleiben. Eine Initiative linker Gruppen und der Linkspartei will bis November 2012 eine Straße, öffentliche Einrichtung oder einen Platz in der Nähe des U-Bahnhofs Samariterstraße nach Silvio Meier zu benennen. Er werde sich persönlich für die Initiative einsetzen, verspricht Franz Schulz, Grünen-Bürgermeister von Friedrichshain-Kreuzberg. "Zivilcourage gegen Rechtsextremismus zu würdigen wäre ein wichtiges Signal", so Schulz. KONRAD LITSCHKO

Nichts lässt sich der Neuköllner anmerken, wenn er über den 12. Juli spricht. Gelassen nippt er an seiner Club Mate in einem hellen, hippen Friedrichshain-Café. Das schwarze Basecap schräg aufgesetzt, schwarz gerahmte Brille, ein weiter Pullover, Hopper-Style. "Mir gehts gut", sagt Jonas K.. Körperlich sei er wieder fit, es gebe keine bleibenden Schäden. "Psychisch ist das eine andere Geschichte." Er habe aber gelernt, mit den seltenen, plötzlichen Angstgefühlen umzugehen. Regelmäßig trifft er sich mit einem Therapeuten. "Sonst ist alles wie früher, nur dass zwischendurch etwas passiert ist, wovon ich nichts weiß."

Es war spät geworden an diesem Samstagabend 2009. Jonas K. ist mit Freunden aufeiner Party in einer Alternativkneipe in Friedrichshain. Mit einer Freundin und einem Kumpel bricht er Richtung S-Bahnhof Frankfurter Allee auf. Das ist das Letzte, woran er sich erinnern kann.

Die Polizei rekonstruiert das Folgende: Kurz vorm Bahnhof, im Gang zwischen Bahnbrücke und Einkaufscenter, sprechen gegen 5.30 Uhr zehn Linke vier Neonazis auf ihre Thor-Steinar-Klamotten an. Die Marke erfreut sich unter Neonazis Beliebtheit. Unter den Linken soll sich auch Jonas K. befinden. Die Thor-Steinar-Träger kommen gerade aus dem Jeton, einer von Rechten frequentierten Disko gleich in der Nähe. Es wird ruppig, ein Linker verpasst einem Neonazi eine Platzwunde am Kopf. Die Rechten schlagen zurück, die Linken ergreifen die Flucht. Nur Jonas K. bleibt am Boden liegend zurück. Einer der Neonazis, Oliver K., schlägt und tritt immer wieder zu. Er schleift den bewusstlosen Jonas K. über den Gehweg, dreht sein Gesicht seitlich aufs Pflaster, tritt ihm mit wuchtigen Stampfkicks auf den Hinterkopf. "Du Zecke wirst nicht mehr aufstehen", ruft einer der Neonazis. Erst eintreffende Polizisten zerren Oliver K. von Jonas K. weg.

Hirnblutungen, Prellungen und einen Jochbeinbruch stellen die Ärzte im Klinikum Friedrichshain fest. Nach zwei Tagen erwacht Jonas K. auf der Intensivstation aus einer komaähnlichen Dämmerung. Einem Arzt sagt er, dass er nichts darüber wissen will, warum er hier sei. Er wolle sich erst mal erholen. Auch daran kann er sich heute nicht mehr erinnern.

Die Tat und ihre Brutalität schreckt den Bezirk, die ganze Stadt auf. "So was gibt es bei uns?", raunt es durch Friedrichshainer Cafés. Noch am Abend versammeln sich 150 Menschen zu einer Mahnwache am Tatort. Autonome bewerfen die Fassade des Jetons mit Steinen. Wenige Tage später demonstrieren 5.000 Menschen durch Friedrichshain. SPD-Innensenator Ehrhart Körting spricht von einer "schrecklichen Tat".

Die Rechten werden noch am Tatort verhaftet: Vier junge Männer, 20 bis 26 Jahre alt, aus dem Berliner Umland bei Königs Wusterhausen. Oliver K., Michael L., Marcel B., Michael G sind allesamt vorbestraft, gegen Oliver K. laufen drei offene Bewährungen. Im Internet tauchen Fotos der vier auf. Sie zeigen Marcel B. beim Hitlergruß und Oliver K. mit einem Shirt der Neonazi-Band Skrewdriver. Auf einem Bild ist die Wohnung eines der vier zu sehen. An der Wand hängt ein Filmposter: "American History X". In dem Film bringt ein Neonazi einen Dunkelhäutigen um. Mit einem Bordsteinkick.

Als die vier Schläger Anfang dieses Jahres vor dem Berliner Landgericht stehen, geht Jonas K. nur zu einem der Prozesstermine, zu seiner eigenen Zeugenaussage. Es ist der Rat seines Psychologen. Erkennen Sie einen der Angeklagten wieder, fragt der Staatsanwalt. Jonas K. schaut denen, die ihm sein Leben nehmen wollten, in die Gesichter. Und schüttelt den Kopf. Nichts habe er in diesem Moment empfunden, sagt der 23-Jährige heute. Keine Wut, keine Rache. Er kennt die vier ja nicht.

Zu fünfeinhalb Jahren Haft verurteilt der Richter den Haupttäter Oliver K. Wegen versuchten Totschlags und gefährlicher Körperverletzung. Michael L. und Marcel B. werden zu zweijährigen Bewährungsstrafen verurteilt. Michael G. wird freigesprochen, seine Tatbeteiligung lässt sich nicht nachweisen. Die Urteile gehen in Ordnung, sagt Jonas K.. "Sie ändern ja jetzt auch nichts mehr."

Er hat sich den Tatort angeguckt und Zeitungsfotos. "Ich dachte, vielleicht kommt was." Es kam nichts. Ruhig spricht er über die Juli-Nacht, distanziert. Erzählt, wie die Neonazis "auf ihn eingewirkt" hätten. Er wisse auch bis heute nicht, ob er tatsächlich zu der linken Zehner-Gruppe gehörte, die mit den Neonazis in Streit geriet, sagt Jonas K. Ob es diese Gruppe überhaupt gegeben habe. Oder ob ihn die Rechten zufällig attackiert haben. Er habe allen Bekannten gesagt, dass sie auf ihn zukommen, mit ihm über die Nacht reden könnten. Niemand habe dies getan. "Also habe ich einen Schlussstrich unter das Ganze gezogen." Auch die Polizei stellt das Verfahren gegen Jonas K. im Juli ein - gefährliche Körperverletzung, wegen der mutmaßlichen Beteiligung an der Schlägerei.

Er geht jetzt wieder seinem Alltag nach. Jobben, am Wochenende mit Freunden feiern, später vielleicht wieder studieren. Vor knapp drei Jahren kam er nach Berlin zum Informatikstudium, es machte keinen Spaß, er verließ die Uni. Als alternativ, als links, bezeichnet sich der Neuköllner. Das wussten auch die Rechten in seiner Heimat, einem Ostseestädtchen. Jeder kannte jeden. Es blieb bei Pöbeleien.

Es sei wichtig, sich öffentlich gegen Neonazis zu positionieren, sagt Jonas K. Ihnen nicht die Straße zu überlassen. Deshalb werde er auch zur traditionellen Silvio-Meier-Demo am Samstag gehen. Silvio Meier, ein junger Hausbesetzer, wurde 1992 von einem Neonazi in Friedrichshain erstochen.

Es wird nicht die erste Silvio-Meier-Demo für Jonas K. sein. Aber die erste nach dem 12. Juli 2009. Ein merkwürdiges Gefühl. "Es war knapp letzten Sommer, äußerst knapp", sagt Jonas K.. Was, wenn die Polizisten nicht rechtzeitig gekommen wären? Hätte es dann auch eine traditionelle Demo für ihn gegeben?

Jonas K. verlässt das Café, tritt in den abenddunklen Samariterkiez. Er will die S-Bahn nach Hause nehmen. Vom Bahnhof Frankfurter Allee, nur wenige hundert Meter entfernt. Er habe Glück, sagt er. Denn Angst verspüre er keine, wenn er sich allein durch die Stadt bewegt. Auch nachts nicht, auch an der Frankfurter Allee nicht. Vor dem Bahnhof bleibt er kurz stehen, schaut sich um. Dorthin, wo er vor anderthalb Jahren gelegen hat. Eine unwirtliche Ecke sei das hier, sagt er. "Wie viele andere auch."

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