Ein Jahr nach der Explosion in Beirut: Neue Regierung im Libanon
Nach 13 Monaten Stillstand hat das Land eine neue Regierung. Sie besteht aus der alten Elite, die das Land in die Krise gestürzt hat.
Mikati sagte, das 24-köpfige Kabinett bestehe aus überparteilichen Expert*innen und gewähre keiner Seite ein „Blockierungsdrittel“ oder ein Vetorecht. Lokale Medien jedoch sagen, dass die Posten durch Mitglieder der alten Elite vergeben worden sind.
Der leitende Zentralbankbeamte Youssef Khalil soll Finanzminister werden, während der Posten des Außenministers an den früheren Botschafter des Libanon in Washington, Abdallah Abu Habib, gehen soll.
Nach der Explosion im Hafen von Beirut am 4. August 2020 trat das damalige Kabinett geschlossen zurück. Zwar übernahm es noch dringende Amtsgeschäfte, grundlegende Probleme ging es jedoch nicht an. Der politische Stillstand verhinderte, dass eine vollständig ermächtigte Regierung eine Reihe von Krisen angehen kann.
Ernsthafte Reformen seit Jahren blockiert
Seit Herbst 2019 befindet sich das Land in einer beispiellosen Wirtschaftskrise. Schätzungen der Welternährungsbank zufolge leben mehr als die Hälfte der sechs Millionen Menschen im Libanon unterhalb der Armutsgrenze. Die lokale Währung hat seit Ende 2019 mehr als 90 Prozent ihres Wertes verloren. Es mangelt an Medizin, Benzin und Strom.
Trotz des wirtschaftlichen und institutionellen Zusammenbruchs hat die politische Führung des Landes ernsthafte Reformen blockiert, da diese ihre Macht hätten gefährden können.
Der politische Stillstand bedeutete eine Verschleppung der Neuordnung, die das Land dringend benötigt: Die offizielle Abwertung der Währung, die Restrukturierung der Schulden und des Bankensektors, die Reduzierung des öffentlichen Sektors oder ein ausgeglichener Haushalt. Internationale Finanzhilfen können die Wirtschaft wieder auf die Beine bringen, doch diese werden erst freigegeben, wenn die Reformen durchgebracht sind.
Nadschib Mikati ist seitdem der dritte Mann auf diesem Posten. Seine Vorgänger waren an der Aufteilung der politischen Pfründe gescheitert. Die schiitischen Parteien der Amal und Hisbollah beharrten darauf, einen Schiiten als Finanzminister zu ernennen. Gleichzeitig legte der maronitische Präsident Michel Aoun ständig Vetos ein, um seinen Schwiegersohn zum Innenminister zu machen und die Mehrheit des Kabinetts mit seiner Partei zu stellen.
Bis zur Wahl im Mai 2022 wird sich kaum etwas ändern
In Libanon regelt ein Proporzsystem die politischen Führungspositionen sowie die parlamentarischen Sitze. Um einen erneuten Krieg zu verhindern, ist die Macht unter den konfessionellen Parteien aufgeteilt. Der Parlamentssprecher ist Schiit, der Präsident ist maronitischer Christ und der Regierungschef ist immer ein Sunnit.
Ob das neue Kabinett unter Mikati nun endlich Reformen durchdrückt, ist fraglich. Der Ministerpräsident ist einer der reichsten Männer des Landes und gehört zur politischen Elite, die Missmanagement und Korruption zu verantworten hat. 2018 berichteten libanesische Medien, Mikati habe Millionen von US-Dollar abgeschöpft, die für staatlich geförderte Wohnungsbaudarlehen gedacht waren.
Neue Parlaments- und Präsidentschaftswahlen sind für Mai 2022 angesetzt. Politische Beobachter*innen sagen, dass mindestens bis dahin kein Wandel stattfinden wird.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Schwedens Energiepolitik
Blind für die Gefahren