Ein Jahr nach dem Mord in Kandel: Wenn der Mob sich durchsetzt
Ein Mordfall in Kandel vor einem Jahr rüttelte die Medienlandschaft auf. Es zeigte sich, dass Redaktionen sich von Rassist*innen beeinflussen lassen.
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In einer kleinen Gemeinde im Südwesten soll am Donnerstag eines schrecklichen Verbrechens gedacht werden. Im pfälzischen Kandel wollen sich Rechtsextreme, Linke, Unpolitische und jene versammeln, die einfach nur trauern wollen. Die Realität ist kompliziert, selbst in einer Kleinstadt. Aber als der Mord in Kandel vor einem Jahr passierte, musste die Realität für alle plötzlich ganz einfach sein.
Am 27. Dezember 2017 verschickte das Polizeipräsidium Rheinpfalz eine Meldung über ein Tötungsdelikt in Kandel. Dort hatte offenbar ein 15-Jähriger eine Gleichaltrige in einem Supermarkt erstochen. Auf juristischer Ebene ist der Fall seit September abgeschlossen: Der Täter wurde zu achteinhalb Jahren Haft wegen Mordes verurteilt, das Urteil ist rechtskräftig. Für die öffentliche Debatte aber hatte das Ereignis Auswirkungen, die ein Jahr später nicht zu den Akten gelegt werden können – weil sie subtiler sind.
Denn die Ereignisse in Kandel markierten den Tag, an dem die Tagesschau sich gegenüber einer wütenden Masse an Social-Media-Nutzerinnen rechtfertigte – dafür, dass sie das Thema nicht aufgegriffen hatte. Und das, obwohl es sich erstens um ein Thema handelte, das in die regionale Polizeiberichterstattung gehörte, und zweitens, weil die Hauptsendung der Tagesschau zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal ausgestrahlt worden war. Doch die anonymen Stimmen im Netz forderten Schlagzeilen, weil der Tatverdächtige Afghane war.
Es war das Ereignis, das zeigte, dass Redaktionen in Deutschland sich in ihrer Arbeit von Rassist*innen beeinflussen lassen. Denn Kandel wurde zum überregionalen Thema. Und das, obwohl viele andere sogenannte „Beziehungstaten“ zur gleichen Zeit in den Spaltenmeldungen der Lokalblätter verblieben waren. Als Beziehungstaten werden Gewalttaten bezeichnet, deren Motiv mit einer Beziehung zusammenhängt, etwa Eifersucht oder Demütigung – in Abgrenzung zu politisch motivierten Taten oder etwa Raubmorden. Beziehungstaten werden in der Berichterstattung in der Regel als weniger relevant eingestuft.
Kandel bestätigte, dass das Gespenst der „Willkommenskultur“ Redaktionen in die Defensive gerückt hat. „Wir waren 2015 zu einseitig frohgemut“, lautet rückblickend die Bewertung. Auch Studien behaupten das, wenngleich mit Einschränkung. Medien hätten das Narrativ „Wir schaffen das“ unkritisch übernommen, hätten zu sehr an Geschichten von klatschenden Begrüßungskommitees und interkulturellen Nachbarschaften gehangen und zu wenig die Schwierigkeiten steigender Geflüchtetenzahlen betont.
Ob das so pauschal stimmt, darf bezweifelt werden und lässt sich nicht belegen. Natürlich gab es von Anfang an die zweifelnden Stücke, die Texte, die die Integrationsfrage stellten oder anmerkten, dass ein Sozialstaat, der längst dabei ist, sich dramatisch zu verkleinern, sicher nicht einfach so tausende Geflüchtete versorgen kann, jedenfalls nicht ohne eine politische Vision. Aber war die Gesamt-„Stimmung“ der Berichterstatung dennoch zu optimistisch? Das liegt letztlich in der Wahrnehmung jeder Einzelnen.
Und doch hat die Angst, man konstruiere vom Newsdesk aus eine liberale Multikulti-Scheinrealität, sich festgesetzt. Der Vorwurf, man schwinge sich dazu auf, das Volk zu einem besseren zu erziehen, verunsichert. Also begegnen Redaktionen dem durch die Konstruktion einer Gegenrealität. Nachrichtenagenturen und einzelne Zeitungen bedienen das Bedürfnis nach nationalistischer Einordnung damit, dass sie neuerdings die Herkunft von Tatverdächtigen immer nennen, was früher wegen des Minderheitenschutzes unüblich war. Die Polizeidienste verfahren ähnlich, wie die Badische Zeitung neulich recherchierte. Die Polizeidirektion Weil am Rhein publiziert nämlich auf einmal viel mehr Meldungen über illegale Grenzübertritte, obwohl diese zurückgehen. Begründung: „Die Anzahl der Pressemitteilungen wurde dem öffentlichen Interesse angepasst“. Gegenrealität.
Das theoretische Argument, dass Medien immer ein Stück weit subjektiv arbeiten und nicht erst seit drei Jahren, dass nicht eine Redaktion alleine für Objektivität sorgen kann, sondern nur alle im Zusammenspiel miteinander – dieses Argument ist wenig hilfreich, weil es denen in die Hände spielt, die Realitätskonstruktion vorwerfen. Jenen gut organisierten Rassist*innen also, die ihre Wunschrealität im Netz durchboxen.
Ähnliche Fälle wie Kandel hat es längst gegeben und wird es vielleicht wieder geben. Niemand behauptet, dass nicht berichtet werden darf. Aber groß? Wie überstürzt? Und für welches Publikum? Für Kandel braucht man sich diese Fragen nicht mehr zu stellen. Kandel hat längst die Bedeutung, die es nicht verdient.
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