Ein Jahr nach dem Lockdown in Schanghai: Spuren aus der Gefangenschaft
Im März 2022 begann in Schanghai ein radikaler Lockdown. Die Normalität ist zurückgekehrt, doch unter der Oberfläche offenbaren sich tiefe Narben.
W enn Yaqiu* nach ihren Gefühlen gefragt wird, dann muss sie erst einmal innehalten. „Bislang habe ich noch mit niemanden darüber gesprochen, welche Spuren das letzte Jahr hinterlassen hat“, sagt die Mittzwanzigerin, während sie am kerzenbeleuchteten Tisch eines Thai-Restaurants sitzt. Kellner in dunkler Robe reichen riesige Teller mit Curry und Meeresfrüchten, hinter der Fensterfassade erstrahlen die hell beleuchteten Glastürme der Schanghaier Innenstadt.
Empfohlener externer Inhalt
„Ich verspüre immer noch Wut“, sagt die Büroangestellte mit dem schulterlangen Bobschnitt schließlich. Und dann, nach einer langen Gedankenpause: „Nie hätte ich mir vorstellen können, dass ich mir jemals in meinem Leben um Dinge wie Essen und Wasser Sorgen machen müsse.“
Vor genau einem Jahr trennte eine tiefgreifende Zäsur das Leben der 25 Millionen Schanghaier in ein Vorher und Nachher. Die Lokalregierung ordnete eine Abriegelung der Stadt an, die laut ihrem Versprechen nur vier Tage lang andauern sollte. Doch was schlussendlich folgte, war ein zweimonatiges Martyrium, welches als umfassendster und radikalster Corona-Lockdown während der gesamten Pandemie in die Geschichtsbücher eingehen sollte.
Die wohlhabendste und internationalste Metropole Chinas wurde zu einem riesiges Freiluftgefängnis. Die Bewohner, hinter ihren Wohnungstüren eingesperrt, waren vollkommen abhängig von staatlichen Essenlieferungen. Auf den gespenstisch leeren Geschäftsstraßen fuhren nur hin und wieder vereinzelte Busse entlang: In ihnen saßen die eingesammelten Corona-Infizierten, die in riesige Quarantänehallen abgeladen wurden, wo sie zu Hunderten auf spartanischen Feldbetten ihre Erkrankung auskurieren mussten.
Leiden im April
Was diesen Lockdown so einzigartig machte, war nicht nur seine Radikalität. Sondern auch die erzwungene Unsichtbarkeit: Innerhalb Chinas fand die Ausnahmesituation der 25 Millionen Einwohner im offiziellen Narrativ praktisch keinen Niederschlag.
Die kommunistische Parteiführung nahm das Wort „Lockdown“ zu keiner Stelle in den Mund, sondern benutzte ausschließlich Orwell’sche Euphemismen wie „statisches Management“ oder „Ruheperiode“. Im Staatsfernsehen liefen in den Abendnachrichten Beiträge über volle Supermärkte mit prall gefüllten Gemüsefächern, während sich die Leute tatsächlich vor Hunger ängstigten.
Nur auf den sozialen Medien konnten die Bewohner ihrer Wut Ausdruck verleihen, der jedoch von den Zensoren nach wenigen Minuten bereits ausradiert wurde. Erst durch den Einsatz mutiger Aktivisten konnten viele Zeugnisse für die Außenwelt dokumentiert werden.
Das am meisten geteilte Video war zweifelsohne die „Stimmen vom April“: Während eine Collage aus Luftaufnahmen die stille Geisterstadt zeigt, gibt die Audiospur das Leiden der einfachen Leute wieder: Das Schreien von infizierten Neugeborenen, die unter Zwang von ihren Eltern getrennt wurden. Ein verzweifelter Schanghaier, der seinen im Sterben liegenden Vater vergeblich in ein Krankenhaus einzuliefern versucht.
Dystopie wie bei George Orwell
Und auch Nachbarschaftschöre, die auf Kochtöpfen trommelnd neue Essenlieferungen verlangen. Beantwortet wurden die Hilferufe wie in einem dystopischen Science-Fiction-Film: Die Polizei ließ Drohnen aufsteigen, welche über Lautsprecher riefen: „Beherrschen Sie den Drang Ihrer Seele nach Freiheit. Öffnen Sie nicht das Fenster – und singen Sie nicht.“
Wer nur ein Jahr später durch das frühlingshafte Schanghai flaniert, kann die Bilder des Lockdowns kaum mehr mit der Gegenwart in Verbindung bringen: Nahe der Uferpromenade The Bund lässt sich das hämmernde Stakkato der Baumaschinen vernehmen. Angestellte in Anzügen und Designer-Kleidern huschen in der Mittagspause in die Cafés.
In den blätterverhangenen Platanenalleen der einst französischen Konzession haben die Modeboutiquen wieder aufgesperrt, und an den Trottoirs sitzen bereits am Nachmittag junge Hipster und schlürfen sündhaft teure Whiskey-Highballs. Die einzigen sichtbaren Spuren vom letzten Jahr sind vereinzelte Coronateststationen, die wie verwaiste Ruinen einer untergegangenen Zivilisation anmuten.
Doch dass unter der Oberfläche die Traumata weiter nachwirken, weiß wohl niemand besser als George Hu. Der klinische Psychologe vom United Family Hospital hatte bereits im vergangenen Frühsommer, damals noch selbst im Lockdown, die dramatischen Folgen für die kollektive Psyche der Schanghaier erklärt.
Vergebliche Opfer
Die Bedürfnispyramide der Leute – frei nach dem berühmten Erklärungsmodell des US-Wissenschaftlers Abraham Maslow – wurde über Nacht auf den Kopf gestellt: Drehte sich das Leben der meisten Schanghaier zuvor um Selbstverwirklichung, Yogaklassen und Work-Life-Balance, wurden sie nun auf ihren elementaren Grundängste zurückgeworfen. „Als der Lockdown begann, gerieten viele von uns plötzlich in eine Situation, in der es schwierig war, überhaupt sauberes Wasser oder genügend Nahrung zu garantieren“, sagte Hu.
Hinzu kam die nicht zu beantwortende Frage nach dem Sinn des Ganzen: Bei vorherigen Lockdowns, beispielsweise zu Beginn der Pandemie in Wuhan, konnte die Bevölkerung ihre abgerungenen Opfer als durchaus notwendig begreifen. Der Sars-Erreger war damals neu, unbekannt und weitaus tödlicher.
Impfungen lagen noch in weiter Ferne. Mehr als zwei Jahre später allerdings hatten weite Teile der Welt längst damit begonnen, mit dem Virus zu leben. Omikron stellte sich als weniger gefährlich heraus. Und Vakzine standen seit Monaten bereits zur Verfügung. Dennoch sperrte die chinesische Regierung Millionen Menschen in ihren Wohnungen ein.
Hinter den Haustüren offenbarte sich die menschliche Natur in all ihren Extremen. Eine Humanität trat zutage, die wohl wenige Schanghaier zuvor für möglich hielten: Nachbarn halfen sich mit den zunächst knappen Lebensmitteln aus, organisierten gemeinsame Fensterkonzerte und debattierten erstmals offen über stigmatisierte Themen wie psychische Gesundheit.
Die Leichtigkeit ist weg
Doch gleichzeitig zeigte sich bisweilen auch die hässliche Fratze des menschlichen Daseins: Ganze Nachbarschaften weigerten sich über Wochen, genesene Coronapatienten aus den Quarantänelagern wieder aufzunehmen. Seuchenschutzmitarbeiter prügelten auf Bürger ein, die sich nicht an die pandemischen Schutzmaßnahmen hielten. Und in mehreren Fällen verweigerten Krankenhäuser medizinischen Notfällen den Einlass: Menschen mussten auf offener Straße krepieren, weil sie keinen negativen PCR-Test vorweisen konnten.
„Die Leichtigkeit alter Tage ist weg“, sagt auch Bettina Schön-Behanzin von der europäischen Handelskammer. Die deutsche Managerin, die seit über 25 Jahren in Schanghai lebt, steht in einem holzvertäfelten Konferenzzimmer zwischen Obstbuffet und Powerpoint-Präsentation, um das neue Positionspapier des wirtschaftlichen Interessenverbands vorzustellen.
Es liest sich ein wenig wie eine „gelbe Karte“ an die lokale Stadtregierung: In 37 Empfehlungen legt die Handelskammer dar, wie sich das angeschlagene Vertrauen der europäischen Unternehmen in Schanghai wiederherstellen ließe, etwa durch größere Marktzugänge. Bezeichnenderweise jedoch wurde das Positionspapier nur wenig später von der chinesischen Online-App Wechat gelöscht – mutmaßlich auf Druck der Zensoren.
Dabei täte die Regierung gut daran, auf die internationalen Firmen zu hören. Schon jetzt haben sie massiv Probleme, neue Talente nach Schanghai zu entsenden – trotz privilegierter Expat-Pakete, die neben satten Monatsgehältern auch Wohnungsmieten und Heimatflüge enthalten.
Ein unerhörter Ruf
Selbst europäische Konsuln berichten unter der Hand, dass Chinas führende Wirtschaftsstadt – einst eine Traumdestination für aufstrebende Diplomaten – mittlerweile nur mehr die zweite und dritte Garde an Personal begeistern kann. „Null Covid“ hat das Image der Metropole nachhaltig beschädigt.
Natürlich ist es kein Zufall, dass ausgerechnet in Schanghai das Ende jener radikalen Pandemiepolitik besiegelt werden würde. In den Abendstunden des 26. November versammelten sich spontan Hunderte junge Menschen in den Gassen der einst französischen Konzession für einen friedlichen Trauermarsch.
Mit Blumen und Kerzen gedachte die Menschenmenge der Todesopfer eines Wohnungsbrands in der nordwestchinesischen Stadt Urumqi: Mindestens zehn Anwohner starben dort mutmaßlich, weil sie aufgrund der Lockdown-Bestimmungen nicht rechtzeitig gerettet werden konnten.
Die Stimmung der Gedenkveranstaltung in Schanghai kippte schon bald in Wut und Frustration. Zunächst schrien Studenten wahllose Obszönitäten in den Nachthimmel, um ihre Ablehnung gegen die „Null Covid“-Maßnahmen auszudrücken. Und dann, wie aus dem Nichts, rief eine Frauenstimme den in China geradezu unerhörten Satz: „Nieder mit Xi Jinping!“
Eine Straße als Symbol
Die Menschenmenge drehte sich ungläubig um und verharrte mehrere Sekunden in Schockstarre. Dann jedoch stimmte sie unisono mit in den Chor ein: Erstmals seit den Studentenprotesten vom Tiananmen-Platz 1989 forderten junge Menschen in China den Rücktritt ihrer Regierung.
Die Staatsmacht reagierte, wie sie es in solchen Fällen immer tut: Mehrere Personen wurden verhaftet, etliche weitere zu Verhören geladen. Zudem sorgte der Propagandaapparat in Windeseile dafür, dass die Proteste aus dem kollektiven Gedächtnis ausradiert wurden: Online-Zensoren löschten sämtliche Fotos auf den sozialen Medien, die Zeitungen erwähnten das Thema mit keiner einzigen Silbe.
Und die Sicherheitspolizei riegelte schließlich die gesamte Kreuzung des nächtlichen Aufmarschs vor Morgengrauen mit Gitterstäben ab. Selbst das Straßenschild „Wulumuqi Lu“ – also Urumqi-Straße –, das zum Symbol der Proteste wurde, montierten die Beamten vom Pfosten ab – wie um zu signalisieren, dass es hier absolut gar nichts zu sehen gibt.
Und wer ein Jahr später jenen historischen Ort betritt, findet nur mehr eine Kulisse perfekter Normalität vor: Einige Expats sitzen auf der Terrasse eines Weinladens, Schülerinnen in Trainingsanzügen kaufen beim Eckladen Limonade und Teigtaschen.
Die Freiheit des Jetsets
Doch hinter der Fassade zeigen sich Risse: An der einen Straßenseite ist an diesem Abend eine mobile Polizeistation mit heruntergelassenen Fenstervorhängen postiert, auf der anderen Seite ist nur einen Steinwurf entfernt ebenfalls ein Auto mit zwei jungen Bereitschaftspolizisten geparkt. Ihre wachen Augen nehmen jeden Passanten ins Visier, der sich länger als nötig aufhält.
Juan* hat sich damals aus Neugierde selbst unter die Menschenmenge gemischt. Der 24-Jährige war fasziniert und gleichzeitig abgestoßen von der spontanen Demo: „Die Leute wussten gar nicht wirklich, was sie überhaupt wollten. Sie riefen nur Freiheit, Freiheit, Freiheit. Aber wessen Freiheit meinten sie damit überhaupt?“, fragt Juan, ein groß gewachsener Chinese mit langer Haarpracht, der gerade nach einer durchfeierten Nacht den morgendlichen Heimweg antritt.
Er selbst definiert sich als politisch links und der Mittelschicht zugehörig: Bei den Demonstranten jedoch sah er vor allem reiche Jugendliche aus wohlbehütetem Elternhaus, die egoistisch ihre eigenen Privilegien einforderten. Sie wollten endlich wieder ins Ausland reisen. Um die Situation der einfachen Leute – der Arbeitsmigranten, Tagelöhner und Lieferkuriere – ging es ihnen dabei nicht, so Juan.
Auf seinem Pfad durch das morgendliche Schanghai kommt der freischaffende Filmemacher, den Redefluss durch Corona-Bier und die ersten Sonnenstrahlen des Tages beflügelt, vom Hundertsten ins Tausendste: „Nach außen hin ist alles wieder normal. Wir feiern wieder, du kannst es ja selbst sehen“, sagt Juan. Doch dann fügt er nachdenklich hinzu: „Aber tief in uns drin hat sich alles verändert.“ Nichts sei mehr wie früher: die Lockdowns, die tiefgreifende Isolation während der Pandemie, der neue Kalte Krieg mit den USA und auch der polarisierende Ukrainekrieg.
Schockierende Kehrtwende
„Natürlich sind die Lockdowns und die Weltpolitik verschiedene Dinge. Doch natürlich hängen die auch miteinander zusammen“, sagt Juan, bevor er sich vage entschuldigt: Als Chinese könne er gewisse politische Dinge nicht so direkt sagen. Doch zwischen den Zeilen ist seine Botschaft klar: Seit Corona sei nicht nur die Welt aus den Fugen geraten, sondern auch das einst sorglose, kosmopolitische Universum der Schanghaier Millennials.
Doch die Regierung hatte den Zorn innerhalb der Bevölkerung schließlich aufgegriffen. Nur wenige Tage nach den Protesten in Schanghai öffnete sie die Coronabeschränkungen genauso radikal, wie sie zuvor umgesetzt wurden: Von einem Tag auf den nächsten gab es keine Zwangsquarantäne mehr, keine Massentests und auch keine Lockdowns. Die rasante Kehrtwende schockierte selbst jene Mediziner, die zuvor für ein baldiges Ende von „Null Covid“ plädierten: Denn plötzlich schien eine möglichst rasche Durchseuchung das Ziel zu sein.
Der Übergang wird nun von den Staatsmedien als „Wunder der Menschheitsgeschichte“ angepriesen. Als Xi Jinping zu Beginn des Monats seine dritte Amtszeit beim Nationalen Volkskongress einleitete, sagte sein neuer Premier Li Qiang: „Mehr als drei Jahre lang hat das chinesische Volk unter der starken Führung der Kommunistischen Partei gemeinsam gegen Covid-19 gekämpft, und jetzt haben wir einen großen und entscheidenden Sieg im Kampf gegen die Krankheit errungen.“
Weiter sagte Li, der als Parteisekretär Schanghais den zweimonatigen Lockdown der Stadt zu verantworten hatte: „Die Ereignisse beweisen, dass Chinas Strategien und Maßnahmen völlig richtig waren.“
Am liebsten vergessen
Für die Mittzwanzigerin Yaqiu sind solche Worte ein rhetorischer Schlag ins Gesicht. Auch wenn sie die neue Normalität in vollen Zügen genießt, sagte sie, habe sie die plötzliche und radikale Corona-Öffnung als „Witz“ empfunden: „Der ganze Lockdown war praktisch umsonst“, sagt die Chinesin, während sie beim Abendessen im Thai-Restaurant die letzten Reste ihres Fruchtsafts schlürft.
Unter ihren Altersgenossinnen steht sie mit ihrer Meinung durchaus nicht alleine da. Doch praktisch niemand von ihnen will mehr über die Narben der Vergangenheit reden, die meisten ihrer Freunde wollen sie am liebsten einfach vergessen. Seither hat sich in Yaqiu erstmals eine Empfindung breitgemacht, die sie seither nicht mehr loslässt: „Ich fühle mich manchmal, als gehöre ich nicht mehr nach China.“
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