Ein Jahr nach dem Erdbeben in Nepal: Leben im Provisorium
Chuchepati ist eine der letzten Zeltsiedlungen für Erdbebenopfer in Kathmandu. Die Bewohner haben sich mit der schwierigen Situation arrangiert.
Abgase und Staub prägen das an einer Hauptstraße gelegene Lager. Frühmorgens geht Phula Maya Moktan Wasser holen. Mit Eimern und Krügen steht sie mit anderen Frauen Schlange vor dem großen Plastiktank, der mit gefiltertem Grundwasser gespeist wird – sofern es Strom gibt. Heute wartet sie umsonst. Sie trägt ihre Gefäße zurück zum Zelt, in dem sie seit einem Jahr wohnt.
Als am 25. April 2015 die Erde bebte, konnte sich Moktan mit Mühe und Not retten. Über den schlingernden Hausflur und tanzende Treppen gelangte sie aus dem fünften Stock hinunter auf die Straße. „Im Zelt ist es wenigstens sicherer als im Haus“, meint sie. „Wenn wir Campbewohner nachts Lichter in den Fenstern sehen, sagen wir immer, dass die Leute in den Häusern vielleicht aus Angst nicht mehr schlafen. Erst vorgestern war wieder ein Nachbeben.“
Camp Chuchepati ist von 14 großen Lagern übrig geblieben. Daneben gibt es noch fünf kleinere. In den Tagen nach dem ersten Beben mit der Stärke 7,8 schliefen in Kathmandu Tausende unter freiem Himmel. Aus Angst vor Nachbeben warteten sie im Regen auf Hilfe und errichteten provisorische Lager. Am 12. Mai 2015 gab es ein weiteres starkes Beben. Insgesamt starben 8.800 Menschen, 22.300 wurden verletzt. In den Wochen darauf kamen immer mehr Menschen aus zerstörten Dörfern in die Stadt, die im Juni 16.138 Campbewohner zählte.
Drogenmissbrauch und Prostitution
In Chuchepati lebten in den ersten drei Wochen nach dem Beben nur 600 Familien, erklärt Dawa Sherpa, der hier für eine lokale Hilfsorganisation arbeitet und die Wasserversorgung beaufsichtigt. „Später waren über 7.000 Menschen hier. Da dachte ich, bald verrückt zu werden, so schlecht waren die Lebensbedingungen.“
Inzwischen haben sich die Zustände im Camp verbessert. Weil die Regierung nichts für die Menschen in Chuchepati tut, kümmern sich mehrere Organisationen und Freiwillige um das Lager. Sie registrieren auch, wenn jemand geht. „Leer stehende Zelte sind ein großes Problem“, sagt Yangji Sherpa. „Sie bieten Raum für Drogenmissbrauch und Prostitution.“
In den vergangenen Monaten seien viele Familien in die Dörfer zurückgekehrt, um nach ihren zerstörten Häusern zu sehen und ihre Felder zu bestellen. Umgerechnet 1.655 Euro versprach die Regierung als Aufbauhilfe pro zerstörtes Haus. Doch wann gezahlt wird, ist unklar.
Sabitra Rai, Mutter einer sechsköpfigen Familie, verzieht das Gesicht, wenn die Sprache auf die Regierung kommt: „Die ist nutzlos! Die Politiker sind nicht einmal gekommen, um zu fragen, wie wir den Winter überlebt haben. Nur kurz vor den Wahlen kommen sie, aber danach ist ihnen alles egal“.
Vermehrt Fälle von Menschenhandel
Moktan hat im Camp viele Aufgaben übernommen. Gäste bringt sie zur Registrierung. Sie müssen den Grund ihres Besuchs angeben. Dies sei nötig, erklärt Bikram Sherpa, der heute das Buch verwaltet. Transparenz beuge Konflikten vor, falls Hilfsgüter verteilt werden. Auf einem Schild steht: „Do not take children from the camp“. Nach dem Beben habe es vermehrt Fälle von Menschenhandel gegeben, sagt Yangji Sherpa. Sie wollen lieber vorsichtig sein.
Laut Moktan sind die Mieten in dem Viertel stark gestiegen, weil der Wohnraum immer knapper werde. Wie viele, deren Unterkünfte in der Stadt zerstört wurden, könne sie sich die Rückkehr in ein Haus nicht leisten. Gerüchten zufolge soll Chuchepati bald geräumt werden. Das Bauland ist wertvoll.
Als endlich der Strom kommt, gibt es auch wieder Wasser. Die Sonne brennt auf die Zelte, die Frauen ziehen sich in den Schatten eines Baumes zurück. Sie sprechen darüber, eine Schule für diejenigen zu bauen, die nicht in ihre Dörfer zurückkehren. Die Menschen im Camp sollten ihre Rechte fordern, hat jemand zu Moktan gesagt. Aber wie, weiß sie nicht. Sie will keinen Ärger machen. Bis sie gehen müssen, ist sie auf dem nackten Boden zumindest sicher.
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