Ein Jahr nach Anschlag in Hanau: Der Hass und seine Wegbereiter
Das Attentat von Hanau hat gezeigt, wie gefährlich rassistische Verschwörungsfantasien sind. Doch sie werden noch immer unterschätzt.
Hanau war ein Wendepunkt. Nach dem Anschlag nahm die Kanzlerin erstmals das Wort „Rassismus“ in den Mund. Sie berief sogar einen Kabinettsausschuss gegen Rassismus und Rechtsextremismus ein, der im November 2020 einen umfangreichen Maßnahmenkatalog vorlegte. Selbst Innenminister Horst Seehofer konnte nach dem Anschlag nicht umhin, von einer „Blutspur des Rechtsterrorismus“ zu sprechen.
Das Attentat auf zwei Shishabars in Hanau markierte den Höhepunkt eines blutigen Jahres – einer Anschlagsserie, die im Juni 2019 mit dem Mord an dem hessischen Regierungspräsidenten Walter Lübcke begann und im November in Halle zwei Menschen das Leben kostete. Hätte die Tür der Synagoge nicht standgehalten, wäre es zum Massaker gekommen.
Die drei Attentate stehen auch in einem inneren Zusammenhang, die Täter waren von ähnlichem Hass angetrieben: auf Flüchtlinge und migrantische Jugendliche als Agenten einer vermeintlichen „Überfremdung“, auf Juden und Muslime als Angehörige einer verabscheuten Religion und auf Politiker als Repräsentanten eines verhassten Systems.
Ihre Ziele sind deshalb bis zu einem gewissen Grad austauschbar. Bei dem Attentäter von Halle zeigt sich das besonders deutlich: Ursprünglich wollte er eine Moschee stürmen, die fand er in Halle aber nicht. Als er vor der Synagoge scheiterte, stürmte er in einen nahegelegenen Döner-Imbiss und erschoss einen Mann, den er irrtümlich für einen „Muslim“ hielt, wie er selbst später vor Gericht aussagte.
Verharmlost und relativiert
Auch der Rechtsterrorist, der am 22. Juli 2016 am Olympia-Einkaufszentrum in München neun Menschen tötete, die meisten Jugendliche türkischer und kosovo-albanischer Herkunft, hasste Muslime. Er verehrte den norwegischen Rechtsterroristen Anders Behring Breivik, der 2011 in Oslo und unter den Teilnehmer*innen eines sozialdemokratischen Jugendlagers auf der Insel Utøya ein Blutbad verübte, als Vorbild und Idol.
Seinen Anschlag in München verübte er exakt am fünften Jahrestag der Anschläge von Norwegen. Dennoch brauchten die bayerischen Behörden und viele Medien mehrere Jahre, um diese Tat nicht als unpolitischen „Amoklauf“ und „Racheakt“ eines Mobbingopfers, sondern als rechtsextremes Attentat einzustufen. Das rassistische Motiv wurde verharmlost und relativiert.
Die Attentäter von München, Halle und Hanau haben, wie ihr Vorbild Breivik, kurz vor ihren Taten im Netz ein „Manifest“ mit rassistischen Parolen hochgeladen, um ihre Mordlust zu „begründen“. Denn sie wussten, dass sie mit ihren Feindbildern nicht ganz allein stehen.
Insbesondere „der muslimische Mann“ wurde in den vielen öffentlichen Debatten über „Clan-Kriminalität“ oder islamistischen Terror, über die Kölner Silvesternacht von 2015, über „Ehrenmorde“ oder über Thilo Sarrazin, der über die Geburtenraten von Muslimen schwadronierte, immer wieder als gefährlich und fremd markiert.
Verschwörung im Bestseller
Bestimmte Medien und natürlich die AfD befördern immer wieder das Angstbild einer angeblich drohenden „Islamisierung“. Der Amerikanist Michael Butter, der ein Buch über Verschwörungstheorien geschrieben hat, bezeichnet das Phantasma von der „Islamisierung“ als derzeit hartnäckigste Verschwörungsideologie. Danach würden Muslime gezielt Europa unterwandern und durch massive Zuwanderung und hohe Geburtenraten die angestammte Bevölkerung verdrängen.
Bestsellerautoren wie Oriana Fallaci, Udo Ulfkotte und Thilo Sarrazin haben diese Wahnidee popularisiert, der Schriftsteller Michel Houellebecq hat sie in seinem Roman „Unterwerfung“ aufgegriffen.
Im rechtsradikalen und völkisch-identitären Milieu übersetzt sich diese Paranoia in die Theorie von einem „Großen Austausch“, der angeblich von ganz oben gesteuert wird. Dahinter stecken wahlweise liberale „Eliten“ oder der Philanthrop George Soros, dem das antisemitische Klischee des „jüdischen Strippenziehers“ angehängt wird. So reichen sich der Hass auf Muslime und klassischer Antisemitismus die Hand.
Der Sturm auf das Kapitol in Washington hat gezeigt, wie wirkmächtig Verschwörungsmythen sein können, wenn sie von Staatsoberhäuptern verbreitet werden. Auch die Verschwörungsfantasie von der „Islamisierung“ Europas wird von ganz oben verbreitet: von Ungarns Premier Viktor Orbán etwa, oder von der polnischen Regierung.
Ungebremste Hetze
Und nicht wenige etablierte Medien, vor allem aber rassistische Hetzblogs im Internet, stricken an diesem Angstbild mit. Die Gefahr, die davon ausgeht, wird immer noch unterschätzt.
Politik und Öffentlichkeit haben dem viel zu lange tatenlos zugeschaut oder es als eine Art Kavaliersdelikt betrachtet – als irgendwie verständliche Reaktion darauf, dass unsere Gesellschaft immer vielfältiger wird.
Der reichweitenstärkste Hetzblog in deutscher Sprache, PI-News, versprüht seit 17 Jahren täglich Hass auf Muslime und Politiker. Er wird bis heute nicht vom Verfassungsschutz beobachtet. Dabei wurde in dessen Kommentarspalten schon vor vier Jahren die Adresse des ermordeten Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke veröffentlicht. Und noch im Januar hieß es dort trotzig: „Keinerlei Mitgefühl, keinerlei Trauer für Walter Lübcke.“
Auch die antimuslimische Pegida-Bewegung wurde nie vom Verfassungsschutz überwacht – auch nicht, nachdem ein Redner aus ihren Reihen im September 2016 in Dresden zwei terroristische Sprengstoffanschläge verübte, einen davon auf eine Moschee.
Nicht vergessen!
Auch die Terrorgruppe Freital, die im Jahr 2015 insgesamt fünf Bombenanschläge auf linke Politiker und Asylunterkünfte verübte, hatte Verbindungen zu Pegida. Für die Organisatoren und Wortführer der rechtsextremen Bewegung hatte das jedoch keinerlei direkte Konsequenzen.
Seit dem Anschlag in Hanau steht nun immerhin die AfD unter verschärfter Beobachtung. Seit März 2020 wird der inzwischen formal aufgelöste völkische Flügel der AfD um Björn Höcke als „gesichert rechtsextremistisch“ eingestuft und beobachtet. Der Verfassungsschutz will die ganze Partei als Verdachtsfall einstufen, wogegen diese sich vor Gericht wehrt.
Was aber hat sich nach Hanau sonst noch geändert? Dem unermüdlichen Druck der Hinterbliebenen und der Initiative vor Ort ist es zu verdanken, dass der Anschlag von Hanau nicht vergessen und dass seiner Opfer gedacht wird: #saytheirnames.
Sogenannte Clankriminalität
Angriffe auf Muslime und auf Moscheen sind aber weiterhin alltäglich und haben im vergangenen Jahr sogar zugenommen: Über 900 Straftaten haben die Behörden im Jahr 2020 gezählt. Antisemitische Straftaten wurden sogar 2.275 registriert. Die meisten davon gehen auf das Konto von Rechtsextremisten.
Aufsehenerregende Polizeirazzien in Shishabars sind ebenfalls fast alltäglich, auch wenn dabei selten mehr als unverzollter Tabak gefunden wird. In Berlin rückte die Polizei im vergangenen Jahr sogar mit einem Großaufgebot zu zwei Moscheen an, um dem Verdacht nachzugehen, sie hätten unberechtigterweise Coronasoforthilfen bezogen.
Und die CDU zeigt in einem aktuellen Clip zwei arabisch aussehende junge Männer im Lamborghini, um für ein hartes Durchgreifen gegen „Clan-Kriminalität“ zu werben. Auch das trägt zur Stigmatisierung bei.
Nicht alle haben aus Hanau etwas gelernt.
Der Autor arbeitete bis 2017 bei der taz. Heute ist er Pressesprecher am Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM).
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