Ein Jahr Krieg in der Ukraine: Konkurrenz um humanitäre Hilfe
11,9 Milliarden Euro bekam die Ukraine 2022 für humanitäre Hilfe. Noch wurde bei anderen Ländern nicht gekürzt, doch die Sorge ist groß.
Im „Global Humanitarian Overview“ rechnen die UN jedes Jahr vor, wie viel Geld mindestens benötigt wird, um weltweit Menschen in akuten Notlagen mit dem Allernötigsten zu versorgen. Die Zusagen der Geberstaaten reichen dafür nie aus – das war schon vor dem Ukrainekrieg so.
2021 baten die Hilfsorganisationen um insgesamt 36,6 Milliarden US-Dollar und bekamen 26,4 Milliarden. 2022, im ersten Jahr des Ukrainekriegs, lag der globale Bedarf – ohne jenen der Ukraine – bei 47,1 Milliarden Dollar. Ohne die Hilfen für die Ukraine flossen dafür 30,1 Milliarden – also rund 4 Milliarden Dollar mehr als im Vorjahr. Unterm Strich wurde also nicht bei anderen notleidenden Ländern gekürzt, um der Ukraine zu helfen.
Das Auswärtige Amt etwa verweist darauf, seine Mittel für humanitäre Hilfe 2022 von 2,56 auf 3,2 Milliarden Euro erhöht zu haben. Es seien wegen des Ukrainekriegs „keine unmittelbaren Umschichtungen, Umwidmungen, Kürzungen oder Budgetanpassungen vorgenommen worden“, so ein Sprecher zur taz. In Regionen wie Syrien oder Jemen sei die Hilfe sogar erhöht worden. Den Mehrbedarf durch den Ukrainekrieg habe das Auswärtige Amt unter anderem durch einen Ergänzungshaushalt gedeckt.
Ukraine von Geberstaaten bevorzugt
Das gilt so nicht für alle Geber. Und fest steht, dass die Ukraine von den Geberstaaten insgesamt bevorzugt wurde: Sie erhielt 2022 insgesamt 3,3 Milliarden Dollar der zugesagten Gesamtsumme an humanitärer Hilfe, das waren 78 Prozent der benötigten Summe. Bei keinem anderen Land der Welt ist die Finanzierungslücke geringer. Für Syrien etwa kamen 2022 gerade 43 Prozent der benötigten Hilfszahlungen zusammen, für Somalia 58 Prozent.
Diese Lücken bedeuten für die Bedürftigen kaum vorstellbare Härten: In Somalia etwa stehen so im Schnitt statt der erbetenen 78 nur 44 Euro-Cent pro Person und Tag für Lebensmittelhilfen zur Verfügung. Erschwerend hinzu kommt, dass durch den Ukrainekrieg die Preise für Getreide, Dünger und Diesel stark gestiegen sind. Das Geld reichte also für deutlich weniger Nahrungsmittel als vor Kriegsbeginn.
Zwar konnten durch das sogenannte Schwarzmeer-Abkommen bisher knapp 22 Millionen Tonnen Getreide aus der Ukraine exportiert werden. Doch der Preisindex für Nahrungsmittel sei auf einem Zehnjahreshoch, so das UN-Welternährungsprogramm WFP. „Ohne den Krieg würden heute Millionen Menschen weniger hungern.“
Durch die steigenden Nahrungsmittelpreise musste die Hilfsorganisation in einigen Ländern die Verteilung von Nahrungsmitteln kürzen. Im Südsudan etwa wurden teils Schulspeisungen abgesagt, die oft die einzige Mahlzeit für die Kinder sind. Allein das WFP bekam 2022 rund 14 Milliarden Dollar, und damit mehr Geld als je zuvor. Doch gleichzeitig stieg die Zahl der akut von Hunger betroffenen Menschen 2022 von 283 auf rund 350 Millionen. Die gestiegenen Zuwendungen könnten mit der sich zuspitzenden Not nicht Schritt halten, sagt Martin Rentsch vom WFP. „Aber der Krieg hat keine Löcher in bestimmte Länderetats gerissen, die vorher noch nicht da gewesen wären.“
Krieg könnte Finanzierungslücke vergrößern
Vielmehr seien „vergessene Krisen“ vor dem Krieg unterfinanziert gewesen und sind es immer noch. „Wir können aber nicht feststellen, dass Geber ihre Zuwendungen aus bestimmten Regionen abziehen und sie für die Ukraine beziehungsweise die humanitären Auswirkungen verwenden“, so Rentsch.
Auch dem Entwicklungspolitik-Verband Venro sind keine solchen Umwidmungen bekannt. Der erhöhte Bedarf sei durch zusätzliche Mittel für die Ukraine abgefedert worden. In den nächsten Jahren könne der Krieg die Finanzierungslücke aber vergrößern, weil in der Folge auch in anderen Regionen der humanitäre Bedarf gewachsen sei, sagt Janna Völker von Venro.
Das sieht auch das Entwicklungshilfeministerium BMZ so. „Der Bedarf wird – auch aufgrund der sich verschärfenden Klimakrise – künftig eher steigen als abnehmen“, sagt ein Sprecher. Für die Unterstützung der Ukraine brauche es deshalb deutlich mehr Mittel als bisher geplant, „damit eben nicht zulasten der Menschen in den Ländern des Globalen Südens umgeschichtet werden muss.“
„Natürlich verschärft sich insgesamt der Druck auf die Geber“, sagt Julian Bergmann vom German Institute of Development and Sustainability (Idos) in Bonn. Der Krieg in der Ukraine habe dabei einen doppelten Effekt: Die rekordträchtigen Lebensmittel- und Energiepreise erhöhten gleichzeitig die globale Armut und setzten die nationalen Haushalte der Geberländer unter Druck. „Beides hat sich durch den Krieg verschärft.“ Und weil nicht vorhersehbar sei, welche Krisen künftig noch dazukommen, „gibt es ein gewisses Risiko, in Zukunft weniger handlungsfähig zu sein“.
Die EU etwa habe erhebliche Mittel und Kreditgarantien aus ihrem bis 2027 laufenden, „Außenpolitisches Instrument“ (NDICI-Global Europe) genannten Etat für die Ukraine aufgebracht. Aus demselben Etat wird seit 2021 auch die Entwicklungshilfe der EU finanziert.
Insgesamt hätten sich die Finanzierungslücken durch die Gleichzeitigkeit von Krisen schon jetzt verschärft. „Die Sorge, dass der Ukrainekrieg mittelfristig zulasten der Hilfe für arme Länder gehen kann, ist begründet.“
Bergmann verweist darauf, dass Geberstaaten sich Teile der Kosten für die Aufnahme von Geflüchteten als geleistete Entwicklungshilfe anrechnen lassen können. In Ländern wie Polen, Tschechien oder Deutschland wirkt sich diese Regel durch die hohe Zahl aufgenommener Ukrainer:innen besonders stark aus – was theoretisch die Möglichkeit eröffnet, anderswo zu kürzen und trotzdem eingegangene Selbstverpflichtungen für Entwicklungszusammenarbeit einzuhalten. Die NGO One schätzt, dass die sogenannten geberinternen Flüchtlingskosten für die Ukrainer:innen 2022 rund 35 Milliarden Dollar ausmachen, was etwa einem Fünftel der globalen Entwicklungshilfe entspricht.
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