Ein Blog notiert, was an der Wand steht: "Unverzichtbare Zettelwirtschaft"

Vom entflogenen Wellensittich bis zur WG-Suche: "Notes of Berlin" sammelt Fotos von skurrilen, lustigen und romantischen Botschaften - hinterlassen am Laternenpfahl.

Der Mann der Zettel: Joab Nist auf Recherchetour. Bild: dpa

taz: Herr Nist, auf Ihrem Blog sind Fotos von Zetteln und Aushängen zu finden, auf denen etwa „Tausche Brautkleid gegen Kita-Platz“ steht oder „Wer schmeißt frische Windeln ausm Fenster?“ Warum veröffentlichen Sie die?

Joab Nist: Ich will so viele von den Aushängen und Zetteln fotografisch festhalten wie möglich, weil es in der Fülle den Charakter der Stadt widerspiegelt. Oft glauben die Menschen, die die Zettel aushängen, wirklich, dass ihre Suche oder ihre Botschaft etwas bewirkt – sei es etwas Politisches, sei es, dass ein Haustier gesucht wird. Oft sind es sehr romantische Botschaften, manchmal naive, manchmal aber auch einfach wichtigtuerische.

Wie entstand die Idee, diese Aushänge in allen Stadtteilen an Litfaßsäulen, Fenstern und Bäumen zu fotografieren und zu bloggen?

Als ich 2004 von München nach Berlin gezogen bin ohne Plan in der Tasche, habe ich erst einmal alles aufgesogen, was ich hier gesehen habe. Dabei bin ich auf die Zettel gestoßen. Aus Neugier bin ich unter anderem in Hausflure gegangen oder habe hinter Stromkästen geschaut, um auch an diesen Stellen noch mehr zu entdecken. Und irgendwann habe ich festgestellt, dass diese Zettelwirtschaft Berlin im Kern trifft. Darum habe ich angefangen, diese Alltagskultur zu dokumentieren und zu bewahren. Denn solche Zettel hängen nicht ewig.

Wo gibt es die außergewöhnlichsten Funde?

Außergewöhnlich sind die meisten Einsendungen. Die häufigsten kommen aus Kreuzberg, Neukölln, Mitte, Prenzlauer Berg und Friedrichshain. Dort wohnt primär die Klientel, die der Blog anspricht.

Fotografieren Sie alles selbst?

Als ich den Blog begonnen habe, hatte ich schon rund 200 Fotos archiviert. Meine Idee war auch, einen Gemeinschaftsblog aufzuziehen, damit jeder sich mit guten Fotos beteiligen kann. Inzwischen kommen täglich ungefähr fünf bis zehn Mails an. Ich veröffentliche jeden Tag ein neues Foto und versuche dabei immer unterschiedliche Themen anzusprechen: von Liebesbotschaften über Nachbarschaftsstreits bis hin zu Einbrüchen. Werbung stelle ich nicht online, obwohl ich schon zweimal darauf reingefallen bin. Letzten Endes entscheidet mein Bauchgefühl.

Sind Zettelbotschaften heute nicht anachronistisch?

29, lebt seit acht Jahren in Berlin und macht derzeit seinen Master

in Kulturmanagement an der FU Berlin. 2010 gründete er den Blog "Notes of Berlin".

In einer Großstadt ist diese Zettelwirtschaft unverzichtbar, weil es oft sinnvoller ist, Vermisstenanzeigen von Haustieren oder dem Rad im eigenen Kiez zu kommunizieren als im Netz. Auch im Hausflur kann man anonym den Nachbarn anschwärzen.

Gibt es denn schon eine Art Wettbewerbsdynamik um das schrillste Foto?

Der Wettbewerbsgedanke kommt speziell bei der monatlichen Wahl zu den drei besten Notes auf. Bei wenigen Einsendungen liegt der Verdacht nahe, dass es den Leuten wichtig ist, ihr Foto auf dem Blog zu sehen. Aber das ist eine absolute Ausnahme. Grundsätzlich ist es ein schönes Gefühl, diese kleinen Fundstücke und ihre dazugehörigen Geschichten online zu stellen. Da ich jede Mail beantworte, kommt man auch in Kontakt und merkt, wenn sich die Leute freuen – das ist ein schönes Gefühl.

Welches Foto ist Ihnen bis heute im Gedächtnis geblieben?

Ich kann mich an den ersten Zettel noch sehr gut erinnern. Da hat ein Felix eine Johanna gesucht und schrieb, dass er all seinen Mut für diesen Zettel zusammengenommen hat und sich wahnsinnig freuen würde, wenn sie sich meldet. Ich weiß nicht, was aus den beiden wurde. Aber damit hat alles begonnen.

■ Fotos gehen an: ■ Die originellsten Fotos sind jetzt in einem Buch erschienen: „Wellensittich entflogen – Farbe egal: Kuriose Zettelwirtschaft“. Ullstein, 208 Seiten, 9,99 Euro ■ Party zum Buch: heute, 18 Uhr, in den Räumen des Künstlernetzwerks Artconnect Berlin, Boddinstr. 62
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