Ein Blick zurück aufs Jahr: Im Nachtzug nach Sprötze
Wenn es draußen finster ist, kann man gut eine Bilanz des Jahres ziehen. Die unseres Kolumnisten ist gemischt. Und er wartet noch auf den Plattenspieler.
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D as Jahr ist noch nicht vorbei und die Zeit im Grunde gar nicht reif für abschließende Rückblicke. Das Genre ist um diese Zeit noch nicht üblich und die aktuelle Schlagzahl weltpolitischer Umbrüche erweckt nun auch wirklich nicht den Eindruck, als wäre der Drops schon gelutscht. Gerade erst ist Syriens Horror-Diktatur in Wochenfrist gefallen, in Georgien kämpfen die Menschen um Europa – und bevor die Redaktionsrechner runterfahren können, hat auch hierzulande der Bundeskanzler noch eine Vertrauensfrage zu verlieren. Wer weiß schon, was da nicht noch alles passiert? Ich jedenfalls nicht. Und trotzdem ist jetzt Zapfenstreich.
Ich sitze im Zug, auf dem Rückweg von einer dieser vielen kleinen Weihnachtsfeiern, die „flexibles Arbeiten“ so mit sich bringt. Wir stehen mal wieder still, weil irgendein technischer Defekt behoben werden will: Der vierte Vollstopp des Tages nach „Vorfahrt eines anderen Zuges“, „Signalstörung“ und „Überholungen im Fernverkehr“. Ein bisschen angespannt bin ich diesmal schon, weil mein ohnehin knapp bemessener Anschlusszug nicht auf uns warten wird, der darauffolgende ganz ausfällt und dann auch schon Betriebsschluss ist. Ich muss aber noch weiter raus aufs Dorf, wo ich wohne.
Ich ahne natürlich, dass Sie keine Bahngeschichten mehr hören können. Und obwohl diese Wiederholungen ein bisschen in der Natur von Jahresrückblicken liegen, springe ich trotzdem direkt zu der kleinen Pointe, die ich mir mühsam ausgerechnet habe: Zu Terminen bin ich in 2024 im Schnitt eine gute halbe Stunde früher losgefahren als im Vorjahr – und ich kam trotzdem fast immer knapper an als sonst. Ein paar Mal auch einfach gar nicht.
Aber irgendwie wird mir gerade sogar dieses Elend immer egaler. Bald ist Weihnachten, scheiß auf die Bahn.
Draußen vorm Fenster ist es längst stockdunkel. Irgendwo da hinten müsste Sprötze liegen oder vielleicht auch schon Lauenbrück. Obwohl ich in beiden Orten nie war und sie schon deshalb keinen Platz in meinem Jahresrückblick verdienen, entscheide ich in genau diesem Moment – beim sinnlosen Starren in die undurchdringliche Finsternis der vorsprötzigen Niederungen –, dass es jetzt wirklich reicht.
Ich mache den Sack zu. Komme, was wolle. Irgendwie werde ich mich noch durchschlagen in mein Dorf, notfalls zu Fuß. Vielleicht werde ich morgen früh ein paar Kerzen anzünden, auf jeden Fall aber den Vorratskeller befüllen und was Aufwendiges kochen. Vielleicht repariere ich sogar noch ein bisschen was am Haus und räume auf, während das Jahr verstreicht. Um Müßiggang geht’s mir jedenfalls nicht. Sowieso muss ich noch ziemlich viel arbeiten über die Feiertage, aber sogar das ist mir egal. Denn: In die Stadt muss und werde ich dieses Jahr nicht mehr fahren. Nicht nach Berlin, nicht nach Hamburg und noch nicht einmal nach Bremen. Und das fühlt sich auf eine Weise befreiend an, die ich noch vor ein paar Monaten für völlig unmöglich gehalten hätte – die auch jetzt noch einen fast surrealen Beigeschmack hat.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Jetzt also dieser Jahresrückblick Mitte Dezember: Ich bin in 2024 mit wunderbaren Menschen nach Zürich, Tilburg und Rügen gereist. Ich habe zwei sehr alte Freunde wiedergefunden und andere leider etwas aus dem Blick verloren. Ich habe Bier gebraut und Bücher gelesen.
Ich war mit so vielen Antisemit:innen konfrontiert wie seit 20 Jahren nicht mehr. Ich bin ein Jahr älter geworden. Ich habe beschissene Landtagswahlen erlebt und hatte noch schlimmere erwartet. Ich habe immer noch keinen neuen Plattenspieler, aber das macht auch nichts. Der wird sich finden, so wie alles andere auch.
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