Ehemalige Colonia Dignidad in Chile: Gedenken statt Tourismus
Seit Jahren ist in der früheren Sekten- und Foltersiedlung Colonia Dignidad eine Gedenkstätte geplant. Jetzt will Chile dafür Gelände enteignen.

Das zu enteignende Gebiet umfasst sechs Zonen, auf denen sich die historisch relevanten Orte befinden, die für Leid und Misshandlung in der ehemaligen deutschen Sektensiedlung stehen, wie sexualisierte Gewalt und Zwangsarbeit an Bewohner:innen der 1961 gegründeten Siedlung sowie Folter und Mord an politischen Gefangenen während der chilenischen Diktatur (1973 bis 1990). Innerhalb der 117 Hektar befinden sich aber auch Wohnhäuser von etwa 130 Personen, die noch heute in der Villa Baviera leben, und auch von diesen betriebene Landwirtschaftseinrichtungen sowie ein Hotel-Restaurant-Betrieb im bayerischen Stil.
Ehemalige Gefangene und Angehörige von Verschwundenen fordern seit Langem eine Gedenkstätte und den Stopp des Tourismus auf dem Gelände. Die meisten Bewohner:innen der Siedlung stehen dem grundsätzlich offen gegenüber, fordern aber, in den Prozess einbezogen zu werden. Intern gibt es große Konflikte wegen der Konzentration von Macht und Vermögen bei wenigen Familien.
Die Leitung der als Firmenholding strukturierten Villa Baviera lässt über die von ihr beauftragte Lobbyfirma Extend erklären, die Bewohnerinnen und Bewohner würden durch die fehlende Einbeziehung in die Enteignungsdebatte retraumatisiert. Führungspersonen der Holding hatten bereits vor Monaten angekündigt, auch mit rechtlichen Schritten gegen eine Enteignung vorgehen zu wollen. Das könnte den Enteignungsprozess um Jahre verzögern.
Wer soll das Geld bekommen?
Heutige und frühere Bewohner:innen, die die internen Machtstrukturen innerhalb der Villa Baviera kritisieren und sich zur Vereinigung für Wahrheit, Gerechtigkeit, Entschädigung und Würde der Ex-Colonos (Adec) zusammengeschlossen haben, erklärten in einem Schreiben an Chiles Präsidenten Boric im März, dass sie die Pläne für die Enteignung und die Errichtung einer Gedenkstätte unterstützen. Sie fordern jedoch, die Zahlung für die geplante Enteignung sollte als Entschädigung der Opfer verwendet werden und nicht an die Leitungen der Aktiengesellschaften gehen.
Justizminister Montes erklärt, in den kommenden Monaten werde ein Wertgutachten des Geländes erstellt, dann die Auszahlung des zu zahlenden Preises an die Besitzer:innen beantragt, und danach erst erfolge der Akt der eigentlichen Enteignung. Diese Schritte sollen vor Ende der Regierung Boric im März 2026 umgesetzt werden.
Während der Präsident in seiner Regierungserklärung im Juni 2024 die Enteignung einiger historischer Gebäude angekündigt hatte, umfassen die gegenwärtigen Enteignungspläne riesige Flächen. Unklar bleibt, wie eine Gedenkstätte solchen Ausmaßes finanziert und bewirtschaftet werden könnte.
Zwar hatte ein von einer deutsch-chilenischen Regierungskommission beauftragtes Expert:innenteam bereits 2021 ein Konzept für einen Gedenk-, Dokumentations- und Lernort vorgelegt. Doch gibt es bis heute keine Fortschritte bei der dringend anstehenden Gründung einer Trägergesellschaft oder sonstigen vorbereitenden Arbeiten.
Aus dem Auswärtigen Amt in Berlin heißt es, die Bundesregierung begrüße die Pläne zu Enteignung, Dokumentationszentrum und Gedenkstätte. Sie habe die chilenische Seite „gebeten, auch im weiteren Verfahren – und gemäß chilenischer Vorschriften – die Interessen der derzeitigen Bewohner der Villa Baviera zu berücksichtigen“.
Insgesamt hält sich die Bundesregierung seit Jahren eher zurück und bezeichnet ihre Rolle als Unterstützung für chilenische Initiativen. Dabei trägt auch die Bundesrepublik Verantwortung für die in der Colonia Dignidad begangenen Verbrechen oder deren Duldung.
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