Edgar Hilsenrath ist verstorben: Sprache als Heimat
Am Sonntag ist Autor Hilsenrath gestorben. Sein Werk, welches in den USA als brillante Satire begriffen wurde, las man in Deutschland als Angriff.
Edgar Hilsenrath war ein Mensch, der viele Länder gesehen hatte – geboren wurde er 1926 in Leipzig, er wuchs in Halle auf, 1938 emigrierte seine Mutter mit Edgar und seinem Bruder nach Siret, Rumänien, zu den Großeltern. 1941 wird die Familie in das Ghetto Mohyliw-Podilskyj deportiert. Sie wird 1944 von der Roten Armee befreit, Edgar Hilsenrath geht zu Fuß zurück nach Siret und findet den Ort restlos zerstört vor. „Kurz darauf reiste ich mit einem gefälschten Pass nach Palästina, auf dem Landweg über Bulgarien, Türkei, Syrien und Libanon. Für mich war der Krieg zu Ende.“ In Palästina erfuhr er, dass seine Mutter und sein Bruder den Vater in Frankreich gefunden hatten, auch er reiste nach Frankreich, ging von dort aus in die USA, die Eltern folgten. 1975 dann zog Hilsenrath nach Berlin.
Da hatte er bereits zwei Bücher in den USA veröffentlicht, „Nacht“ (1966, auf Deutsch bereits 1964 erschienen) und „Der Nazi & der Friseur“ (1971), das erste Buch fand einige Beachtung, das letztere wurde ein großer Erfolg. In Deutschland hingegen wurde „Nacht“ verrissen, Fritz J. Raddatz erzürnte sich in der Zeit folgendermaßen: „Statt der Posaunen des Jüngsten Gerichts nur Wortgeklingel, statt der Stummheit gegenüber dem Unsagbaren unsägliche Beredtheit: ein Nelly Sachs für kleine Leute.“ Der zweite Roman, „Der Nazi & der Friseur“, wurde, als er 1977 auf Deutsch erschien, ebenfalls von der Kritik attackiert – es ging in dem Buch um einen begeisterten Nazi, der sich nach dem Krieg als jüdischer Friseur ausgab und sogar nach Israel auswanderte, Hilsenrath hatte von einem ähnlichen Fall in der Zeitung gelesen.
Was in den USA als brillante Satire begriffen wurde, las man hier als Angriff auf alle Deutschen – und zugleich erkannte man dem Überlebenden nicht zu, nüchtern realistisch oder satirisch über den Holocaust schreiben zu dürfen. Selbst das Leiden der Juden war noch deutsche Chefsache.
Warum kehrte Hilsenrath in dieses Land zurück? In seinem letzten Roman, „Berlin … Endstation“ von 2006, ließ er es sein Alter Ego Lesche erklären: „'Was willst du in Deutschland, Lesche?’ 'Ich will zu meiner Geliebten.’ 'Lesche, sei kein Narr, du bist ein alter Mann, eine Geliebte, die ist was für einen jungen.’ 'Ich bin 58’, sagte Lesche, 'das ist nicht alt.’ 'Lesche, willst du dich zum Gespött der Leute machen? Sicher ist sie jung und schön, hat Ansprüche, und du willst als Lustgreis hinter ihr hertappern.’ 'Lustgreis? Du spinnst wohl?’ 'Spaß beiseite’, sagte Betti. 'Wer ist diese Geliebte?’ 'Du hast recht. Sie ist schön, aber nicht jung. Ich habe mich in sie verliebt, als ich neun war, damals in Polen. Ich wurde von ihr getrennt, aber ich bin ihr treu geblieben, ein Leben lang.’ 'Lesche, bist du sicher, dass sie noch lebt?’ 'Ja, ich bin sicher.’ 'Wer ist diese Geliebte?’ 'Ich bin verliebt in die deutsche Sprache.’“
Der trockene Ton seiner Texte und der Witz seiner Dialoge verdankte sich den Werken von Erich Maria Remarque und Ernest Hemingway und galt im deutschen Sprachraum viele Jahre als „unliterarisch“. Daher gelangte Hilsenrath spät zu Ruhm, obschon seine gleichfalls großartigen Romane „Das Märchen vom letzten Gedanken“ (1989), über den Völkermord an den Armeniern, und „Jossel Wassermanns Heimkehr“ (1993) durchaus Aufmerksamkeit fanden. Gewürdigt als ein Klassiker der deutschen Literatur wurde er jedoch erst, als er als Literat verstummte. Hilsenrath ließ seine Schreibmaschine ruhen und die Werkausgabe wirken, die mit dem Erscheinen seines letzten Romans abgeschlossen wurde.
Auch war Berlin nicht die Endstation, er zog vor einigen Jahren mit seiner zweiten Frau Marlene und seinem „Generalbevollmächtigten“ Ken Kubota in die Vulkaneifel. Zuvor überwarf er sich öffentlich mit seinem Verlag, woraufhin Kubota zu seinem Verleger wurde. In den letzten Jahren war es stiller um Hilsenrath geworden, in den USA und in Frankreich allerdings wurde der Autor wiederentdeckt, und erst im November 2018 fuhr Hilsenrath nach Paris, um sich feiern zu lassen. Er konnte also noch seinen Weltruhm genießen. Am Sonntag erlag er den Folgen einer Lungenentzündung.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Gewalt an Frauen
Ein Femizid ist ein Femizid und bleibt ein Femizid
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis