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EU-Ratschef über FlüchtlingspolitikTusk fordert Kehrtwende von Merkel

Niemand in Europa sei bereit, „diese hohen Zahlen aufzunehmen“, sagt Donald Tusk. Der EU-Ratschef fordert eine Kehrtwende von Kanzlerin Merkel.

„Die Flüchtlingswelle ist zu groß, um sie nicht zu stoppen“, erklärte Donald Tusk. Foto: dpa

London/Bremen afp/dpa | EU-Ratschef Donald Tusk hat zu einer Kehrtwende in der Flüchtlingspolitik aufgerufen. Niemand in Europa sei bereit, „diese hohen Zahlen aufzunehmen, Deutschland eingeschlossen“, sagte er im Interview mit der Süddeutschen Zeitung und fünf anderen europäischen Blättern (Donnerstagsausgaben). Mit Blick auf Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) sagte er weiter: Manche politischen Führer sagten, „die Flüchtlingswelle ist zu groß, um sie zu stoppen. Die Flüchtlingswelle ist zu groß, um sie nicht zu stoppen.“

Vor allem durch eine drastische Ausdehnung der Prüfzeit will der frühere polnische Ministerpräsident die hohe Zahl der Ankömmlinge bremsen. Im Völkerrecht und auch im EU-Recht gebe es eine Regel, wonach „18 Monate für die Überprüfung gebraucht werden“, wurde Tusk vom britischen Guardian zitiert. Derzeit sei es „zu einfach“ für die Flüchtlinge, in die EU zu gelangen. „Bitte spielen sie die Rolle der Sicherheit nicht herunter“, sagte Tusk weiter. „Wenn man Einwanderer und Flüchtlinge überprüfen will, braucht man mehr als nur eine Minute für Fingerabdrücke.“

Der Ratschef liegt in der Flüchtlingsfrage mit Merkel über Kreuz, die seit Monaten für eine Umverteilung der Neuankömmlinge unter allen EU-Staaten kämpft. Gegen den Widerstand Polens und anderer osteuropäischer Länder hatten die EU-Innenminister im September zunächst eine Umsiedlung von 120.000 Flüchtlingen aus Griechenland und Italien beschlossen.

Die Entscheidung per qualifizierter Mehrheit grenze an „politische Nötigung“, sagte Tusk, der die Gipfeltreffen der EU-Staats- und Regierungschefs einberuft und leitet. Er könne verstehen, dass es mehrere Länder gebe, die sich gegen einen permanenten und verbindlichen Umverteilungsmechanismus stemmten.

Bremens Bürgermeister Sieling: Tusk „ungeheuerlich“

Der Chef der deutschen Ministerpräsidentenkonferenz, Bremens Bürgermeister Carsten Sieling (SPD), hat die Forderung des EU-Ratspräsidenten Donald Tusk nach einer Kehrtwende in der Flüchtlingspolitik scharf zurückgewiesen. Tusk mache sich zum Wortführer der EU-Länder, die sich seit Wochen und Monaten verweigerten, ihre Verantwortung wahrzunehmen, kritisierte Sieling am Donnerstag im Deutschlandfunk.

„Dass Herr Tusk diese Position jetzt einnimmt, ist ungeheuerlich für die Rolle, die er hat. Er hat zusammenzuführen und Probleme zu lösen und sich nicht einseitig auf die Seite der Verweigerer zu stellen“, sagte Sieling.

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11 Kommentare

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  • Vielleicht sollten sich die Länder, die den Großteil der Flüchtlinge aufnehmen mal gegen den permanenten und verbindlichen Geldverteil-Automatismus in der EU wehren, um mit den Worten des Herrn Tusk zu sprechen.

  • Tusk ist nicht nur ein Heuchler in Bezug auf seine katholische Religionszugehörigkeit. Auch was sein Demokratieverständnis betrifft, so hat er dringend Nachhilfe nötig. Wenn er eine demokratische Mehrheitsentscheidung der EU, die Flüchtling unter den Mitgliedern gerecht aufzuteilen, als "Nötigung" bezeichnet, dann ist er nichts Anderes als ein autoritärer Demagoge, der schnellstens aus seiner Führungsposition in der EU abgelöst werden sollte.

     

    Polen z. B. hat nicht den geringsten Grund, sich zu beschweren. Es wurde in den letzten Jahren durch EU-Subventionen aufgepäppelt. Da kann man doch wohl auch Gegenleistungen in solidarischer Form erwarten. Stattdessen entzieht sich die rechtsgerichtete neue polnische Regierung jeglicher Verantwortung und weigert sich, Flüchtlinge aufzunehmen.

     

    Tusk hat nichts- und überhaupt gar nichts begriffen - wenn er behauptet, daß „die Flüchtlingswelle ist zu groß, um sie zu stoppen. Die Flüchtlingswelle ist zu groß, um sie nicht zu stoppen“., dann muß man ihm entgegen, daß die Flüchtlingsströme ganz im Gegenteil zu groß sind, um sie überhaupt stoppen zu können.

     

    Die einzige Möglichkeit sie zu reduzieren, besteht darin, deren Ursachen zu bekämpfen, was keine einzige der EU-Regierungen verstanden hat. Wir werden uns noch wundern, denn wenn wir alles so wie bisher laufen lassen, werden wir noch überrollt ...

    • 4G
      4845 (Profil gelöscht)
      @Peter A. Weber:

      "Polen z. B. hat nicht den geringsten Grund, sich zu beschweren. Es wurde in den letzten Jahren durch EU-Subventionen aufgepäppelt. Da kann man doch wohl auch Gegenleistungen in solidarischer Form erwarten. Stattdessen entzieht sich die rechtsgerichtete neue polnische Regierung jeglicher Verantwortung und weigert sich, Flüchtlinge aufzunehmen. "

       

      Anders formuliert: Sie beschweren sich darüber, dass Polen nicht käuflich ist...

  • Tusks Äußerung zeigt, wie unbarmherzig viele Europärer aller Nationen (also auch viele Deutsche) sind. Ihre Ungestörtheit und ihr Wohlstand gehen ihnen über das Leid und die Verzweiflung anderer. Natürlich sind die Flüchtlinge eine Herausforderung und es sind auch nicht alles Engel. Manche (der geringeste Teil) nerven auch und das muss auch so genannt werden. Je nach Einstellung, gehen sich aber auch die Alteingesessenen oft gegenseitig auf die Nerven und wenn sie es trotzdem miteinander aushalten, sollte das auch mit Flüchtlingen möglich sein. Diese müssen die europäischen Spielregeln kennenlernen und sich daran halten. Wenn Flüchtlinge nicht in menschenunwürdige Massenunterkünfte in meist ohnehin schon sozial benachteiligten Gegenden gedrängt, sondern möglichst gleichmäßig in Europa verteilt und rasch integriert werden, dürfte niemand über Gebühr strapaziert werden.

    Dazu ist jedoch guter Wille, sowohl auf Seiten der Politik, als auch der Bevölkerung nötig, woran ich aus oben genanntem Grund leider große Zweifel habe.

    Meine Aufforderung an alle Verfechter einer "harten Linie" ist, wenigstens auf weihnachtliche Gefühlsduselei zu verzichten und stattdessen mal, wenn sie sich Christen nennen wollen, Matthäusevangelium, Kapitel 25, Vers 31-46 nachzulesen.

    • 4G
      4845 (Profil gelöscht)
      @Joba:

      "Wenn Flüchtlinge nicht in menschenunwürdige Massenunterkünfte in meist ohnehin schon sozial benachteiligten Gegenden gedrängt, sondern möglichst gleichmäßig in Europa verteilt und rasch integriert werden, dürfte niemand über Gebühr strapaziert werden."

       

      Unsinn. Die UNCHR und die Flüchtlingslager im Nahen Osten müssen finanziell und organisatorisch unterstützt werden um die Flüchtlinge vor Ort zu versorgen. Das nützt den Betroffenen und Europa mehr als irgendwelche Zwangs-Quoten.

      • @4845 (Profil gelöscht):

        Da frage ich mich, ob es wirklich billiger kommt, die Menschen, die ja schon hier sind, wieder zurückzuschicken und dort zu versorgen. Nebenbei: Warum soll den armen Ländern im nahen Osten zugemutet werden, womit Europa sich überfordert sieht? Das "Sankt Florians Prinzip" ist kein guter Ratgeber für menschlichkeit. Auch wenn ich selbst Protestant bin, sollte der Papst der polnischen Kirche, die in Teilen ziemlich "verPISst" zu sein scheint, mal gehörig ins Gewissen reden.

        • 4G
          4845 (Profil gelöscht)
          @Joba:

          Der Flüchtlingsstrom hätte verhindert werden können, wäre die UNCHHR rechtzeitig unterstützt worden. Zumindest könnte man den Flüchtlingsstrom u.a. dadurch beenden, die Flüchtlingslager vor Ort zu unterstützen. Das nützt auch den Flüchtlingen wesentlich mehr, da diese nach dem Ende des Konflikts wieder in Ihre Heimat zurückkehren können. Flüchtinge müssen nicht integriert werden, denn es sind keine Einwanderer. Flüchltinge müssen versorgt werden und diejenigen die ein Recht auf Asyl haben entsprechend dem völkerrechtlichen Rahmenbedingungen für Asylanten behandelt werden. Ob die jenigen die bereits hier sind bleiben dürfen oder nicht, hängt allein von deren Recht auf Asyl ab und das ist aus gutem Grund engumrissen.

    • 5G
      571 (Profil gelöscht)
      @Joba:

      Der Pole Tusk ist sicher auch ein guter Katholik, dem das Matthäusevangelium nicht fremd sein dürfte.

      Ob er "Christ" i. e. S. ist, muss er durch sein Handeln noch beweisen.

      Maschmeyer/Ferres haben ja schon mal ein Zeichen gesetzt und "Nichtchristen" bei sich aufgenommen.

      • 4G
        4845 (Profil gelöscht)
        @571 (Profil gelöscht):

        Und ich dachte wir wollten in Europa Staat von Kirche trennen...

    • 1G
      1714 (Profil gelöscht)
      @Joba:

      Selten liest man derart gut formulierte und durchdachte Beiträge wie diesen im Forum. Danke. Es ist wohltuend, mal keine Polemik und keine verschwurbelten, wichtigtuerischen Texte lesen zu müssen.

      • 5G
        571 (Profil gelöscht)
        @1714 (Profil gelöscht):

        Stimmt, aber Polemik kommt schneller auf den Punkt und regt die Diskussionsbereitschaft an.