EU-Krise nach dem "No" der Iren: Lissabon halb tot
Geringe Wahlbeteiligung von 45 Prozent nützt Gegnern. Entsetzen in Brüssel. Ernste Folgen für EU-Strukturen. Barroso, Merkel und Sarkozy wollen Vertrag aber noch nicht beerdigen.
BRÜSSEL taz Während in Dublin Castle das Schicksal Europas ausgezählt wurde, warteten Politiker und Journalisten in Europas Hauptstadt in resignierter Grundstimmung auf das Ergebnis des irischen EU-Referendums. "Es fühlt sich an, als hätte man im Endspiel durch Elfmeter verloren", sagte ein trübsinniger englischer Journalist, als erste Trends bekannt wurden. Am Abend stand fest: 53,4 Prozent der irischen Wähler lehnten den Reformvertrag ab.
Da hatte der sozialistische Fraktionsvorsitzende Martin Schulz seinen Zuhörern im Europaparlament längst erzählt, wer seiner Ansicht nach schuld ist: "Der irische Premier Bertie Ahern hat seinen Wählern immer gesagt: Ich schütze eure Interessen in Brüssel. Mit diesem Spiel muss Schluss sein, dass Erfolge national verbucht werden und Misserfolge Brüssel zugeschoben!" Schulz betonte: "Ich werde verlangen, dass alle 27 Regierungschefs persönlich vor dem Parlament erscheinen und erklären, was jedes einzelne Land mit der Union noch will."
Was das noch bringen soll, vermag auch Schulz nicht zu sagen. Die Anklage, dass die doppelzüngigen Politiker am schlechten Ruf der EU schuld seien, weil sie zu Hause nicht zu dem stehen, was sie in Brüssel beschlossen haben, erhebt er nicht zum ersten Mal. Doch wie könnte das Europaparlament dem einen Riegel vorschieben? Der Lissabon-Vertrag ist gestorben, das weiß auch Schulz. Schließlich könne man nicht, wie damals bei der Ablehnung des Nizza-Vertrags, das irische Referendum einfach wiederholen. "Die Zeiten sind vorbei, wo man den Leuten gesagt hat: Stimmt so lange ab, bis ein Ja herauskommt." Andere Wackelkandidaten wie Tschechien würden dem Vertrag nun bestimmt nicht mehr zustimmen.
Bundeskanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Staatschef Nicolas Sarkozy forderten dennoch, "dass die anderen Mitgliedsstaaten ihre innerstaatlichen Ratifizierungsverfahren weiterführen." Neben Tschechien und Großbritannien haben die Parlamente in Schweden, Belgien, Spanien, Italien und Zypern noch nicht über den Vertrag abgestimmt.
Am Montag wird sich der Verfassungsausschuss des Europaparlaments in Straßburg zu einer Krisensitzung treffen. Sein Vorsitzender Jo Leinen spekuliert bereits, ob nicht die 15 Staaten, die seinerzeit die Verfassung schon ratifiziert hatten, die EU neu gründen sollten. Dann müssten die übrigen einen Beitrittsantrag stellen oder der neuen Union fernbleiben.
Juristen werden in den nächsten Monaten darüber streiten, ob das rechtlich möglich ist. Sie werden auch klären müssen, ob die nächste Erweiterungsrunde überhaupt stattfinden kann, da der Nizzavertrag dafür keinen Rahmen bietet.
Optimistisch gab sich Kommissionspräsident José Manuel Barroso. Lissabon sei "nicht tot", sagte Barroso nach einem Telefongespräch mit dem irischen Ministerpräsidenten Brian Cowen. "Der Vertrag lebt, und wir sollten eine Lösung finden." Martin Schulz muss er davon noch überzeugen. Seine Fraktion werde dagegen stimmen, dass weitere Länder in die EU aufgenommen werden: "Für Kroatien werde ich die Hand nicht heben." Eine Retourkutsche für das EM-Spiel, in dem Kroatien die deutsche Mannschaft 2:1 geschlagen hatte, sei das aber nicht.
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