EU-Abkommen mit Mercosur-Staaten: Von der Leyen kurz vor der Ziellinie
Die EU-Chefin will in Uruguay das Freihandelsabkommen mit der südamerikanischen Wirtschaftsorganisation abschließen – nach einem Vierteljahrhundert.
Dabei scheinen die letzten Details noch immer nicht zu Ende verhandelt zu sein. Etwa ob die Übergangsfrist für den Import von Elektroautos in den Mercosur wie bei Verbrennern für 17 Jahre oder 25 Jahre gelten soll. Kleinigkeiten angesichts der Tatsache, dass bei allen Regierungschefs der südamerikanischen Wirtschaftsgemeinschaft erstmals eine grundlegende Zustimmung zu dem Abkommen besteht. Mit dem Amtsantritt des libertären Präsidenten Javier Milei wechselte Argentinien vom Brems- aufs Gaspedal.
Carolina Pasquali, Geschäftsführerin von Greenpeace Brasilien, sieht die Pläne kritisch. „Es ist empörend, dass ein Abkommen mit so weitreichenden sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Folgen für die Menschen in Südamerika hinter verschlossenen Türen und ohne Beteiligung der Öffentlichkeit ausgehandelt wurde“, sagt Pasquali.
395 Indigenen-, Bauern-, Umwelt- und Menschenrechtsorganisationen aus Europa und Lateinamerika hatten kürzlich kritisiert, das Abkommen trage zu einer massiven Ausbreitung von Bergbauaktivitäten, Viehzucht sowie Zuckerrohr- und Soja-Monokulturen im Amazonas, Gran Chaco und Cerrado bei. Die Folgen wären verheerende Umweltschäden, Menschenrechtsverletzungen und Vertreibungen von Bäuerinnen und Bauern sowie indigenen Gemeinschaften.
Keine Sanktionen bei Umweltverstößen
„Das EU-Mercosur-Abkommen sieht die Abschaffung der Zollgebühren von über 90 Prozent der importierten chemischen Produkte aus der EU vor, darunter auch Pestizide, die in Europa verboten sind und die Menschen und Umwelt in den Ländern des Mercosur belasten“, so Maureen Santos von der brasilianischen Menschenrechts- und Umweltorganisation Fase. Aktivisten monieren auch, dass Verstöße gegen die Umweltvorschriften im Nachhaltigkeitskapitel des Abkommens nicht sanktioniert werden könnten.
Für den marktradikalen Javier Milei ist der Mercosur Türöffner und Fessel zugleich. Einerseits will er mit solchen Abkommen die Schutzbarrieren beseitigen, hinter denen sich seiner Meinung nach die argentinischen Industriellen seit Jahrzehnten verschanzt haben, während neue Exportmärkte für die hochtechnisierte Landwirtschaft verschlossen bleiben. Andererseits verhindern die Statuten des Mercosur einen Alleingang. Verhandlungen über Handelsabkommen müssen von den Mitgliedstaaten gemeinsam geführt werden.
Mercosur
Der Mercado Común del Sur, kurz Mercosur, wurde 1991 von Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay als Wirtschaftsvereinigung gegründet. Venezuela trat 2012 bei, wurde aber 2016 wegen Bedenken zur Menschenrechtslage suspendiert. Seit 2024 ist Bolivien Vollmitglied.
Das Abkommen
2019 hatten sich die Europäische Union und der Mercosur nach mehr als 20 Jahren Verhandlungen auf ein Freihandelsabkommen geeinigt, das jedoch noch immer nicht ratifiziert wurde und damit auch nicht in Kraft gesetzt ist. Sollte das Abkommen tatsächlich umgesetzt werden, würde eine der größten Freihandelszonen der Welt mit rund 780 Millionen Menschen entstehen.
Die Hindernisse
Unter Brasiliens rechtsextremem Präsidenten Jair Bolsonaro (2019–22) blockierte Streit über die Abholzung des Regenwalds das Abkommen. Jetzt kommt der Gegenwind etwa von Frankreich und Polen, wo Agrarverbände vor Schäden für die heimische Land- und Viehwirtschaft warnen. Kapitalismuskritische Stimmen bemängeln grundsätzlich, dass Freihandelsabkommen meist große Konzerne gegenüber kleineren Betrieben bevorzugen. (taz)
Unabhängig vom Abkommen mit der EU wird Milei in Montevideo auf eine Änderung der Statuten drängen. Zukünftig soll jeder Mercosur-Partner separat und nicht mehr als Block über Freihandelsabkommen mit anderen Ländern oder Blöcken verhandeln dürfen. Eigentlich nichts Neues. Seit Jahren scheitert Uruguay regelmäßig mit diesem Vorschlag, bisher vor allem an Argentinien. Und während Paraguays Präsident Santiago Peña bereits abgewunken hat, gibt sich Brasiliens Präsident Lula da Silva noch diplomatisch. „Der Mercosur ist nicht perfekt, aber er ist ein wichtiger Mechanismus für unsere Volkswirtschaften. Ich hoffe, dass Argentinien weiterhin ein konstruktiver Partner sein wird“, so Lula.
Am Ende des Gipfels in Montevideo wird Milei turnusgemäß den Vorsitz der Wirtschaftsgemeinschaft übernehmen. Ob es in den nächsten sechs Monaten zu einem Kompromiss oder zu einem Bruch kommen wird, ist bei dem zumeist kompromisslosen Milei offen.
Rechtsextreme Stimmen
Denkbar wäre, dass der Mercosur mit anderen Staaten und Blöcken Rahmenabkommen abschließt, die es jedem Mercosur-Mitglied erlauben, weitere Öffnungen auszuhandeln. Dieses Modell wurde bereits in den Abkommen mit Kolumbien, Venezuela, Ecuador und Peru praktiziert. Stellt sich die Frage, ob dies zukünftig auch im Fall des Abkommens mit der EU gelten könnte.
Die EU-Vertreter konnten spätestens vergangenen Mittwoch einen Eindruck bekommen, mit wem sie hier ein Abkommen schließen. Auf der rechtsextremen CPAC-Konferenz in Buenos Aires sagte der libertäre Präsident Javier Milei, „Es geht um Macht, und wenn wir sie nicht haben, werden die beschissenen Linken sie haben“, und bezog sich dabei auf den Wahlsieg von Donald Trump. „Es reicht nicht, nur gut zu wirtschaften und sich politisch zu organisieren, sondern es ist auch notwendig, dass wir den Kulturkampf führen.“ Es gelte, in den Universitäten, den Medien und der Kultur gegen die kriminellen Linken zu kämpfen.
Die Show von der Leyen
Das war aber sicher nicht der Grund, warum von der Leyens Reise zum Mercosur-Gipfel in Brüssel bis zuletzt geheim gehalten worden war. „Die technischen Gespräche gehen weiter“, hatte eine Sprecherin von Kommissions-präsidentin Ursula von der Leyen kurz vorher erklärt. Ob und wann von der Leyen nach Montevideo fliegen würde, wollte sie nicht verraten.
Erst als die deutsche CDU-Politikerin im brasilianischen Sao Paulo gelandet war, legte sie ihre Pläne offen. „Touchdown in Latin America“, schrieb sie im Onlinedienst X. „Die Ziellinie des Mercosur-Abkommens ist in Sicht. Wir wollen sie überschreiten.“
Niemand anders sollte ihr dabei die Show stehlen, nicht einmal der neue EU-Handelskommissar durfte sich äußern. Dabei geht es um den wichtigsten Freihandelsdeal der letzten Jahre. „Wir haben die Möglichkeit, einen Markt mit 700 Millionen Menschen zu schaffen“, betont von der Leyen.
Wer verliert?
Nach Berechnungen der EU-Kommission würden sich für europäische Exporteure durch den Wegfall von Zöllen jährliche Einsparungen in Höhe von rund 4 Milliarden Euro ergeben. Zu den Gewinnern werden vor allem deutsche Autohersteller und die Chemieindustrie gezählt.
Als Verlierer sehen sich die Landwirte, die billiges Rindfleisch aus Brasilien oder Argentinien fürchten. „Autos gegen Rindfleisch“.
Die Landwirtschaft der Europäischen Union würde aber durch das Handelsabkommen mit den südamerikanischen Mercosur-Staaten einer Prognose zufolge kaum leiden. Die EU produzierte nach Inkrafttreten der Zollsenkungen nur knapp 1 Prozent weniger Schweine- und Geflügelfleisch, hat eine Modellrechnung des bundeseigenen Thünen-Agrarforschungsinstituts bereits Ende 2020 gezeigt. Noch niedriger wäre demnach das Minus bei Rind- und Schaffleisch, Milchprodukten, Zucker, Getreide Obst und Gemüse sowie Bioethanol. Die Wissenschaftler kamen deshalb zu dem Schluss, „dass das Handelsabkommen zwischen der EU und den Ländern des Mercosur nicht zu einer ‚Überschwemmung‘ der Agrar- und Ernährungsmärkte in der EU führen wird“.
Das liege daran, dass die Europäer ihre „sensible“ Agrarproduktion auch nach Inkrafttreten des Abkommens durch Zölle schützen dürfen. Auf Rind- und Schaffleisch etwa erhebt die EU derzeit eine Importsteuer in Höhe von im Schnitt 55 Prozent. Das Abkommen würde dem Mercosur erlauben, bis zu 99.000 Tonnen zu 7,5 Prozent Zoll in die Union zu verkaufen. Was über diese Importquote hinausgeht, muss zu den alten hohen Sätzen verzollt werden. Bezogen auf den Konsum und die Produktion in der EU würden die zusätzlichen Importe „sehr gering“ sein, so die Thünen-Forscher.
Dennoch behauptet beispielsweise der Deutsche Bauernverband, dass wegen des Mercosur-Abkommens der „heimischen Erzeugung die Verdrängung durch Agrarimporte“ drohe. Die Einfuhren dürften „die immer höheren und kostenintensiveren EU-Standards im Verbraucher-, Umwelt, Klima- und Tierschutz nicht unterlaufen“. Deshalb müsse der Vertrag vorsehen, dass Agrarprodukte nur zollfrei gehandelt werden, wenn sie nach genauso strengen Regeln erzeugt werden wie in der EU.
Diese Forderung dürfte aber schwierig durchzusetzen sein. Denn die Handelspartner argumentieren, sie selbst hätten gegenüber EU-Bauern einen massiven Wettbewerbsnachteil. Schließlich können etwa brasilianische Landwirte von Agrarsubventionen wie in der EU nur träumen: Die Europäer päppeln ihre Landwirtschaft mit 55 Milliarden Euro jährlich.
Allerdings stellen sich inzwischen Frankreich, Belgien, Österreich und neuerdings auch Polen auf die Seite der Landwirte. In Frankreich und Belgien gehen schon die Bauern auf die Barrikaden, auch in Deutschland rumort es. Widerspruch kommt sogar aus dem Europaparlament.
„Geheimabkommen“
Dort warnt die französische Abgeordnete Manon Aubry, Co-Vorsitzende der Linken-Fraktion, seit Tagen vor dem „Geheimabkommen“. Es sei hinter dem Rücken der Völker ausgehandelt worden, das EU-Parlament habe immer noch keinen Zugang zum Text des Abkommens: „ein Wahnsinn“.
Bedenken hat auch Anna Cavazzini. Die handelspolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion warnt vor einem „großen Fehler, wenn Ursula von der Leyen das EU-Mercosur-Abkommen gegen den Widerstand zahlreicher Mitgliedsstaaten durchsetzen sollte“.
Das werde die Instabilität und die Europaskepsis in Ländern wie Frankreich und Polen nur weiter befeuern, so Cavazzini. Der Klimaschutz und der Schutz des Amazonas-Regenwaldes müsse eine zentrale Rolle in dem Abkommen spielen, dies wollen die Grünen überprüfen.
Allerdings ist die Handelspolitik voll vergemeinschaftet; die EU-Kommission ist allein zuständig und kann im Alleingang handeln. Genau das versucht von der Leyen. Dass sie dabei die Regierungskrise in Paris nutzt, um Präsident Emmanuel Macron zu übergehen, könnte sich allerdings noch rächen.
Macron versucht bereits, eine sogenannte Sperrminorität im Ministerrat zu organisieren. Dafür wären vier Mitgliedsländer nötig, die mindestens 35 Prozent der EU-Bevölkerung vertreten. Dies könnte Paris mit Hilfe von Italien, Polen und einem weiteren kleinen Land gelingen.
Von der Leyens Coup wäre damit gescheitert. Am Wochenende wird sie zu Gesprächen in Paris erwartet. Auch wenn es offiziell nur um die Wiedereröffnung der Kathedrale Notre-Dame gehen soll – Mercosur dürfte im Mittelpunkt der Gespräche stehen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Sport und Krieg in der Ukraine
Helden am Ball
Bodycams bei Polizei und Feuerwehr
Ungeliebte Spielzeuge
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Das Weihnachten danach
Nachhaltige Elektronik
Ein blauer Engel für die faire Maus