EU-Abgeordnete nach dem Brexit: Abschied aus Brüssel
Nach dreijähriger Odyssee verlässt Großbritannien die Europäische Union. In Brüssel führte das zu Tränen, Wut – und enttäuschenden Partys.
Zum Beispiel Frans Timmermans. Bis zum letzten Moment, so sagt der Vizepräsident der EU-Kommission, habe er auf „ein Wunder“ gehofft. „Ich habe mir etwas vorgemacht und geglaubt, dass das Land, das den Common Sense erfunden hat, wieder zu Sinnen kommen würde“, bekennt der Sozialdemokrat aus den Niederlanden auf einer Sondersitzung seiner Fraktion am Mittwoch. Dass es anders gekommen sei, mache ihn unendlich traurig.
Oder Katarina Barley. Die frühere Bundesjustizministerin, nun Vizepräsidentin des Europaparlaments, wollte sich am Freitagabend entweder allein verkriechen oder zusammen mit Freunden in London sinnlos besaufen. „Ich werde auf jeden Fall echt trauern“, sagte die SPD-Politikerin, die einen britischen Vater hat und sich den „Remainern“ tief verbunden fühlt.
Bei Scott Ainslie überwiegt dagegen die Wut. „Unser Land ist betrogen worden“, sagt der grüne Europaabgeordnete aus London. Großbritannien sei von „Hochseepiraten aus Neuseeland“ gekapert worden – eine Anspielung auf die Murdoch-Mediengruppe und ihre jahrelange Hetze gegen die EU. Der Brexit ist für ihn „der größte Fehler in einer Generation“, sagt er der taz.
Keine normalen Zeiten
Statt zu trauern, hat Ainslie zusammen mit anderen britischen Abgeordneten für Donnerstagabend eine fröhliche Farewell-Party in einem Saal im Brüsseler Europaviertel organisiert. „Not leaving quietly“ – wir gehen nicht geräuschlos – lautet das Motto. Alle Proeuropäer sind eingeladen, sich ihren Frust über den Brexit aus dem Leib zu tanzen.
Die schottische Band The Hoggies spielt auf, es gibt Freibier und kostenlose Teigtaschen. Der Saal ist voll, die Stimmung ausgelassen, vor laufenden Fernsehkameras wird wild getanzt und laut diskutiert. Doch die erhoffte Breitenwirkung bleibt aus, Ainslie und seine Freunde bleiben bis auf wenige Ausnahmen unter sich.
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Neben einigen britischen EU-Abgeordneten und ihren Assistenten – die nun zum großen Teil arbeitslos werden – sind nur ein paar Deutsche zu dem schottischen Abschiedsfest gekommen. Franzosen sucht man an diesem Abend ebenso vergebens wie Italiener oder Polen. Dabei feiert man oft und gerne zusammen – jedenfalls in normalen Zeiten.
Doch es sind keine normalen Zeiten in Brüssel. Dies zeigt auch ein Abschiedsempfang am selben Abend, den die Stadt für ihre britischen Mitbürger organisiert hat. Auf der Grand Place, die eigens in den Farben des Union Jack angestrahlt wurde, spielt eine Band, der Bürgermeister hält eine Rede. Doch die Beteiligung hält sich in Grenzen, das belgische Fernsehen spricht von einer Pleite.
Das liegt nicht nur am kalten Regen und dem stürmischen Wind, der den „B-Day“ in Brüssel vermiest. Den meisten Briten ist schlicht und einfach nicht zum Feiern zumute. Viele Belgier und Europäer hingegen sind es leid, dass sich seit Jahren alles nur noch um den Brexit dreht. Manch einer möchte endlich ein neues Kapitel aufschlagen und das britische Drama hinter sich lassen.
Nach dem verlorenen Referendum 2016 hatte die EU versprochen, ohne Rücksicht auf London durchzustarten und einen „Aufbruch für Europa“ zu wagen. Stattdessen wurde der Brexit zum Hauptprogramm. Sogar die Europawahl wurde von dem endlosen Theater überschattet. Das hat Spuren hinterlassen – vor allem engagierte Proeuropäer und überzeugte Föderalisten sind frustriert.
„Die Vision kam von uns“
Zudem erinnern sich viele mit Schrecken daran, dass die Briten zuletzt nur noch Ärger gemacht haben. Im Irakkrieg stand Tony Blair auf der Seite der USA. In der Eurokrise blockierte David Cameron schnelle Entscheidungen. Danach hat Cameron zusammen mit Kanzlerin Angela Merkel das EU-Budget zusammengestrichen – und dann auch noch das fatale EU-Referendum angesetzt. Das Sündenregister ist lang.
Dagegen wirken die Erfolge, die die britischen Europaabgeordneten vorweisen können, eher dürftig. „Wir haben unseren britischen Humor mitgebracht“, sagt Labour-Politiker Richard Corbett in einem Interview. Außerdem habe man dafür gekämpft, die EU demokratischer und gerechter zu machen.
Der liberale Politiker Chris Davies brüstet sich damit, die Schockbilder auf den Zigarettenpackungen durchgesetzt zu haben. „Die EU-Kommission war zunächst dagegen, nun lieben sie es“, sagt er der taz. Außerdem habe er erfolgreich für die Belange der Fischer gekämpft – Davies war Chef des Fischereiausschusses, nun geht er in Rente.
Der Grünen-Politiker Ainslie schrieb sich den European Green Deal auf seine Fahne. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) habe das ambitionierte europäische Klimaprogramm bei den Grünen abgeschrieben, ohne britische Hilfe wäre das vielleicht nicht möglich gewesen. „Die Vision kam von uns“, sagt er.
Fest steht, dass die proeuropäischen britischen Stimmen im Europaparlament wichtig waren. Vor allem Grüne und Liberaldemokraten konnten bei der Europawahl punkten. Doch mit dem Brexit und dem Abgang der 73 britischen EU-Parlamentarier kehrt sich der Erfolg in sein Gegenteil um. Linke und Linksliberale verlieren viele Sitze, Konservative und EU-Gegner gewinnen – das Europaparlament ist nach rechts gerückt.
Eine Abschiedslied – trotz Verbot
Für Nigel Farage ist das eine späte Genugtuung. Als der Chef der „Brexit Party“ 1999 in die Straßburger Kammer einzog, hätte er sich wohl selbst nicht träumen lassen, dass er sein Land eines Tages aus der EU führen würde. Nun, da der Brexit kommt, gibt er sich kämpferischer denn je. „Wir lieben Europa, wir hassen nur die Europäische Union“, ist sein Motto. Er hoffe, dass der EU-Austritt der Anfang vom Ende des europäischen Projekts sei.
Doch auch die Pro-Europäer machen mobil. „It's not good bye – it’s au revoir“, skandieren die Sozialdemokraten zum Abschied ihrer britischen Genossen. „Ich freue mich jetzt schon auf den Tag, wenn Großbritannien sich entschließt, zurückzukommen“, sagt Timmermans. „Der dritte Akt ist die Kampagne für den Wiedereintritt“, sagt auch Jens Geier, Chef der deutschen SPD-Gruppe.
Auch die Grünen geben sich kämpferisch. Bereits am Sonntag, nur zwei Tage nach dem Brexit, reist die deutsche Europaabgeordnete Terry Reintke nach London, um eine EU-UK-Freundschaftsgruppe voranzutreiben. Sie trifft sich mit zivilgesellschaftlichen Gruppen, um den Kontakt aufrechtzuerhalten und gemeinsame Projekte zu planen.
Reintke war es auch, die den vorläufigen emotionalen Schlusspunkt im EU-Parlament gesetzt hat. Kurz vor der letzten Abstimmung zum Brexit schlug sie vor, gemeinsam „Auld Lang Syne“ zu singen. „Sollte alte Vertrautheit vergessen sein?“, heißt es im Songtext, „lass uns zueinander recht freundlich sein, der alten Zeiten wegen.“
Singen ist im Plenarsaal verboten, und doch haben (fast) alle EU-Abgeordneten mitgemacht. Kurz nach der finalen Abstimmung über den Brexit-Vertrag stimmten mehrere Hundert Parlamentarier das Abschiedslied an. Die Grünen hielten sich zum Zeichen der Solidarität an den Händen, einige haben Tränen vergossen. Das verbindet – auch über den Brexit hinaus.
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