ESC-Kolumne Genderwahl in Wien #10: Politische Fakten zum Finale
Dem ESC wird nachgesagt, er sei unpoltisch. Stimmt nicht. Da reicht schon ein Blick auf Geschichte, Mitgliedschaften und Realitäten der einzelnen Länder.
E in Eurovision Song Contest ist nur schlichten, rechten wie linken Gemütern, ein unpolitisches Ding. In Wahrheit lässt sich das Finalfeld der 27 Acts am heutigen Samstag ab 21 Uhr im Fernsehen mit dem NDR-Radio-Grand-Ol'-Godfather-Kommentator Peter Urban (oder im Zweifelsfall: eurovision.de) folgendermaßen dekonstruieren: Der Anteil der Länder in der Endrunde, die bis 1993 noch zur TV-Kette Intervision zählten, beziehungsweise hinter dem Eisernen Vorhang ihr tristes (für Putinversteher: glorreich-entbehrungslustvolles) Leben lebten, ist hoch.
In Zahlen: 10 Länder sind Mitglied der EU, 17 nicht. Zum sogenannt traditionell freien Westen gehören 13 Länder, 14 sind historisch zum Sozialismus zuzurechnen (einerlei ob sowjetischer oder jugoslawisch-titoistischer Einfärbung oder ob Enver-Hodscha-hafter Tradition wie in Albanien).
In der Nato sind 17 Länder Mitglied, zehn jedoch nicht. Den Euro haben als Zahlungsmittel 12 Länder, 15 ist dies nicht gegeben. 7 Länder sind in der abendlichen Konkurrenz, die bis 1991 zur Sowjetunion gehörten (Estland, Lettland, Litauen, Aserbaidschan, Armenien, Georgien und Russland).
Hätten Moldawien und Weißrussland besser gesungen, wären es gar neun. Die beim ESC stets erfolgreiche Ukraine ist nicht dabei – der öffentlich-rechtliche Sender hat nicht einmal Geld genug, um in der Wiener Stadthalle eine Kommentatorenbox anzumieten. Eine Exilukrainerin, verheiratet mit einem Oligarchen in Wien, hat sich als Journalistin akkreditieren lassen für den ESC und wird in Kiew vom Bildschirm aus die 3,5-Stunden-Show auf Ukrainisch kommentieren.
Queernessfaktor: fast null
Erstmals seit Jahren haben alle drei baltischen Länder es ins Finale geschafft; ebenso erstmals sei Jahren fehlen vom stärksten Block der Punktewertungsbegünstigung, dem skandinavischen, drei der fünf Länder. Zufall oder Ausdruck der als krisenhaft empfundenen Zeit: Selten waren friedenserbittende, sozialflehende Lieder so stark im Rennen – zuletzt vielleicht 1990, als etliche Titel von Mauern, Brandenburger Tor und Europa handelten.
Conchita Wurst hat voriges Jahr einen heterosexuellen Symbol-Backlash bewirkt: Im Finale sind heute fünf Mann-Frau-Paare vertreten, eines versucht gar für sich zu werben, indem es sich zum Ende ihrer drei Minuten Performance innig küsst (Litauen). Darüber hinaus gibt es einige Jungsgruppen (Österreich), Jungstanzgruppen (Israel) und sehr, sehr viele Frauen im langen Abendkleid. Die Windmaschine ist sehr oft in Wien vor der Bühne aktiv.
Die präsenteste Person der Show wird kein Wettbewerbskünstler sein, keine der drei Moderatorinnen (Warum eigentlich keine drei Männer? Der ORF traute sich nicht.) – sondern Conchita Wurst. Sie singt zweimal und führt außerdem Interviews im Green Room, wo sich die Künstler vor und nach ihren Auftritten sehr telegen aufhalten.
Der Frauenanteil an der Konkurrenz beträgt 58 Prozent (ohne BackgroundsängerInnen). Queernessfaktor an diesem Finalabend: jenseits von Conchita Wurst und dem belgischen Sänger: null. Ein eurovisonärer Rückschritt.
Die Punktewertung beginnt gegen 23:10 Uhr.
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