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EM und PatriotismusNational gehemmt

Niemand weiß mehr, was man mit diesem Schland eigentlich anfangen soll. Für den Fall deutscher Erfolge stehen alle aber vorsichtig sprungbereit.

Unverkrampft und stilsicher für Deutschland? Fällt den meisten Deutschen schwer Foto: Sebastian Kahnert/dpa

A ls Zafer Şenocak in die Bundesrepublik kam, 1970, wunderte er sich über dieses Land. Er machte nur wenig nationale Symbole aus. Kaum Fahnen. Wenig Bilder von Repräsentanten des Staates in öffentlichen Gebäuden. Deutschtümelnde Mitschüler des späteren Schriftstellers waren Außenseiter. Das lief in der Türkei anders.

Doch nun war er in einem „sympathischen Land (angekommen), das dem Einwanderer kaum mit eigener Identität entgegentrat“, schrieb er einmal über seine neue Heimat. Daran hat sich nicht viel geändert. Deutschland weiß nichts mit sich anzufangen. Es trägt Lasten, die aus guten Gründen auch auf kommende Generationen verteilt werden. Gut, es gab diese patriotische (oder nationale?) Aufwallung im Jahr 2006, Fähnchenmeere überall.

Doch diese ex post immer wieder als unbeschwerte Zeit gefeierte Episode trug doch deutliche Zeichen von Zwanghaftigkeit: Jetzt sind wir aber mal locker, heimatstolz und gastfreundlich! Es war eine Auszeit von der deutschen Bleischwere, eine nette Autosuggestion, die mit dem Ende der WM in sich zusammenfiel wie ein Soufflé, das zu früh aus dem Ofen geholt wird. Das Land kippte zurück in die Stimmung der redlichen Verzagtheit und des protestantischen Durchmurkelns.

Die Sehnsucht nach kollektiver Aufwallung ist freilich immer da, der Wunsch, ein anderer zu sein – und bei jedem großen Sportevent versucht der, nun ja, Deutsche, Berührungspunkte an die Normalität anderer Länder zu finden: den gesunden Patriotismus eines Franzosen oder einer Schottin. Wir könnten hier noch Dutzende andere Nationen aufzählen, allein, die Diagnose bliebe die gleiche. Für den Homo teutonicus gilt: Genauso wie die Toskana-Fraktion nicht italienisch wird, so bleibt er national gehemmt, geradezu linkisch.

Dass jetzt vor dieser EM im eigenen Land kaum Fahnen zu sehen sind, ist also nichts Besonderes, zumal die politischen Kämpfe der vergangenen Jahre zu einer weiteren Entfremdung von der Trikolore in Schwarz-Rot-Gold geführt haben. In der Linken zucken die alten antideutschen Reflexe wieder besonders stark, und die Rechte weiß nicht recht, womit sie ihr angeblich so starkes Schland-Gefühl begründen soll. Da ist viel revisionistisches, antimodernes Zeug dabei, und mit dem Hervorkramen deutscher Tugenden, Romantik oder Klassik beglückt man eher die eigene Zielgruppe.

Selbst der einfache Fußballfan, ja, auch die gesellschaftliche Mitte, weiß nicht mehr, was sie mit diesem Schland anfangen soll. Wofür steht es? Warum soll ich mich heiß machen (lassen)? Turnt mich dieses Team wirklich an? Also ist man landauf, landab in defensiver, aber durchaus sprungbereiter Erwartung. Alles hängt von der Performance des DFB-Teams ab. Spielt es gut, wird man (krampfig) Blaupausen von der WM 2006 erstellen. Kickt es schlecht, ergeht man sich in Defätismus und übellauniger Meckerei. Vielleicht ist genau das Deutschlands nationale Identität – mit der man allerdings keinen Staat machen kann.

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Redakteur
Seit 1998 mehr oder weniger fest bei der taz. Schreibt über alle Sportarten. Und auch über anderes.
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7 Kommentare

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  • „Wir haben Italien geschaffen. Jetzt müssen wir Italiener schaffen.“ Massimo d‘Azeglio (einflussreicher Politiker ebda., 19. Jh.). Peinlich, in der taz solches Identitäterä zu lesen. Ja klar, auch wieder der Verweis auf den vermeintlich viel größeren Nationalstolz anderswo (wer glaubt das im Ernst?). Vielleicht dann noch irgendwann der bittere Hinweis eines verkappten Patrioten, man wolle doch so gern, dürfe aber nicht… und sei obendrein auch noch der Zahlmeister… (es ist ermüdend). Doch zurück zum Eigentlichen: Aus einer Organisationsform ein Glaubensbekenntnis zu machen, ist nicht sehr sinnvoll. Patriotismus macht nicht wirklich glücklich, reich wird man davon schon gleich gar nicht (Fahnenfabrikanten vielleicht). Warum aber ausgerechnet solche sinnfreien Sentimentalitäten, wenn’s doch letztlich eh immer nur ums Geld geht - Letzteres ist sicher nicht das Schlimmste. Ich glaube nicht an ´nation building` und all den Quatsch. Das Eingangszitat habe ich übrigens aus dem schönen und lehrreichen Buch „Bevor die Völker wussten, dass sie welche sind“ von Richard Schuberth.

  • Antipatriotismus war mal voll cool.

    Kein erhabenes Wir-Gefühl, keine gedankliche Grenzziehung zu anderen Völkern und kein Stolz auf die zufällige Geburt eines Erstweltlandes.

    Dann kam 2006. Was ist nur aus uns geworden?

  • Der letzte Paragraf beschreibt für mich die deutsche Mentalität (zumindest für die 50 Jahre, die ich sie erlebe) ziemlich genau.



    Es ist uns bisher nicht vergönnt, eine deutsche Nationalidentität zu entwickeln, denn die Last der Geschichte erdrückt jede Leichtigkeit, wenn es um Patriotismus und Nationalstolz geht. Angemessenes Geschichtsbewußtsein, dass Verbrechen anerkennt und nicht vergisst, gleichzeitig aber Stolz auf das Erreichte zulässt, ist nicht zu erkennen. Aber wir Deutschen sind zu verkopft und zu verkrampft, wir meinen immer alles richtig und besser machen zu müssen. Da passt halt nichts außer das Haar in der Suppe zu suchen und anderen zu sagen, was sie alles falsch machen. Miesepetrig halt.

  • Mit ihrer 'Nibelungentreue' zu aufgeblähten Sportveranstaltungen wie der EM beweisen die Medien, allen voran ARD und ZDF, echten Sinn für Minderheiten. Was sich bei der WM 2022 schon zeigte, wird gerade noch deutlicher: Je mehr Bohei in den Medien, desto weniger Interesse in meiner Millionenstadt. Wo 2022 noch ein paar Fahnen zu sehen waren, herrscht heute Leere. Selbst ausgewiesene Fußballfans im Bekanntenkreis sagen immer häufiger, dass sie vielleicht noch das eine oder andere Spiel im Fernsehen anschauen, aber sie hätten wichtigeres und interessanteres zu tun.

    Die Formel vom 'freundlichen, da weltoffenen Nationalismus' greift schon deswegen ins Leere, weil auch die weniger freundlichen Nationalisten ohne Sport als Anlass für demonstrativen Nationalstolz auskommen und sich organisieren.

    Nicht nur die Politik auch die Massenmedien haben die gesellschaftliche Bindung verloren und schmoren im eigenen Saft.

    • @Stoersender:

      Naja, 22 Mio TV Zuschauer und Hunderttausende beim Public Viewing sprechen eine andere Sprache

      • @Ahnungsloser:

        Na ja, bei einer Gesamtbevölkerung von 84,7 Mio auch nur eine Minderheit und die 'hochgerechnet' im Auftrag der Fernsehanstalten. In der alten BRD lagen die Spitzquoten von TV-Sendungen bei über 80% der Gesamtbevölkerung.

        • @Stoersender:

          Wann war denn das?

          Das muss doch damals gewesen sein, als die alte BRD noch ganz jung war und es nur zwei Fernsehsender gab...