: Durst nach Gerechtigkeit
■ Krieg der Manifeste – von Erfurt nach Berlin
Der „Erfurter Erklärung“ folgte am Wochenende als Kontrapunkt die „Berliner Erklärung“, unterzeichnet von den zur CDU übergewechselten ehemaligen Bürgerrechtlern samt ihrem Anhang. Herausgekommen ist eine substanzlose, öde Suada.
Sicher, das Dokument der „Erfurter“ ist unbrauchbar, eine Geisterbeschwörung, in seiner Ignoranz gegenüber dem nach wie vor bei der PDS versammelten vordemokratischen Potential partiell sogar gefährlich. Aber statt den „Erfurtern“ argumentativ zu begegnen, rasten die „Berliner“ aus. Den Erfurtern wird „Staatssozialismus“ und „Bürgerkriegsdenken“ unterstellt. „Freiheit oder Sozialismus“ wird angesichts der „Erfurter Erklärung“ zur aktuellen Kampfparole erhoben. Ein Dokument der politischen Hysterie, an dem man mit einem Achselzucken vorbeigehen könnte, wäre mit ihm nicht die Grundlinie dessen vorgezeichnet, was uns seitens der Konservativen im Wahlkampf 1998 bevorsteht.
Der altbackene Argumentationsstil der „Erfurter Erklärung“ darf keinen Augenblick darüber hinwegtäuschen, daß die Unterzeichner einen wesentlichen Punkt der deutschen Gemüts- und Geistesverfassung getroffen haben, nämlich das Gefühl, zu Opfern einer ungerechten Politik geworden zu sein. Ganz richtig haben die „Erfurter“ die Befürchtung vieler Menschen diagnostiziert, allmählich in eine „andere Republik“ abzudriften. Der Durst nach Gerechtigkeit ist dabei keineswegs auf die neuen Bundesländer beschränkt, wie uns einige Kommentatoren suggerieren wollen, für die die DDR-Bevölkerung noch in den Kinderschuhen „nachholenden Bewußtseins“ steckt. Diffuse Gerechtigkeitsvorstellungen durchziehen heute bis weit in die Mittelschichten die deutsche Bevölkerung in Ost und West. Der Kampf gegen die Kürzungen bei der Lohnfortzahlung war nicht nur deshalb erfolgreich, weil er von entschlossenen Gewerkschaften getragen wurde und wird. Er erhielt seine Schwungkraft durch eine spontane Massenempörung, der sich schließlich ein Teil der veröffentlichten Meinung anschloß. Was hier an Protest zum Ausdruck kam, gilt es in seiner Widersprüchlichkeit auszugleichen, zu bündeln, in Forderungen umzusetzen. „Citoyens“, schrieb Marquis de Sade, „noch eine Aufgabe, so Ihr Republikaner sein wollt!“ Christian Semler
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